Alleskönner Wasserstoff

Alleskönner Wasserstoff


Politik und Wirtschaft wollen klimaschädliche Emissionen verringern – und setzen auf grünen Wasserstoff. Noch sind einige Herausforderungen zu lösen, doch das Potenzial ist groß: Nach und nach wird sich der Energieträger in den Alltag vorarbeiten.

Politik und Wirtschaft wollen klimaschädliche Emissionen verringern – und setzen auf grünen Wasserstoff. Noch sind einige Herausforderungen zu lösen, doch das Potenzial ist groß: Nach und nach wird sich der Energieträger in den Alltag vorarbeiten.

Text: Manuel Heckel, Illutration: Timo Meyer, Erscheinungsdatum: 10. November 2020

Die große grüne Revolution kommt in kleinen Fläschchen – und ist farblos: Bundesforschungsministerin Anja Karliczek hält den Fotografen ein Gefäß mit 80 Milliliter Flüssigkeit entgegen. Darin sind 48 Liter Wasserstoff gebunden. Genug Energie, um einen Kühlschrank einen Tag lang zu versorgen. Das Element hat zwar die simple chemische Formel H2, zeigt aber eine enorme Wirkung: Wasserstoff könnte in den kommenden Jahrzehnten zu einer wichtigen Energiequelle im Alltag werden. Er kann helfen, den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid zu reduzieren. In der Wirtschaft wird schon lange an Einsatzmöglichkeiten getüftelt, und die Politik hat jüngst noch einmal ihre Initiativen gebündelt. Die Nationale Wasserstoffstrategie soll den Rahmen für diese Art der Energiewende setzen. Neun Milliarden Euro stellt der Bund in den nächsten Jahren zur Verfügung.

Die Ziele sind ehrgeizig. „Wir wollen bei dieser Zukunftstechnologie vorne in der Welt dabei sein“, sagte Karliczek im Frühsommer. „Je früher und beherzter wir einsteigen, desto größer ist unsere Chance, dass der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft zu einem neuen Jobmotor in Deutschland wird.“ Nur wenig später legte die EU nach. Auch hier rückt im Rahmen einer neuen Strategie der Energieträger in den Fokus. Und auch hier sieht man in der aktuellen Situation große Chancen, die mit dem Element verbunden sind: „Die neue Wasserstoffwirtschaft kann ein Wachstumsmotor sein, der zur Überwindung der durch Covid-19 verursachten wirtschaftlichen Schäden beiträgt“, sagte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission.

Alleskönner in der Erprobungsphase

Kein Wunder, denn Wasserstoff kann auf vielen verschiedenen Wegen helfen, CO2-Emissionen zu reduzieren. Sei es als direkter Energieträger oder als Energiespeicher, um flexibel den Zustrom erneuerbarer Energien zu puffern. Oder als Hilfstechnologie, um in energieintensiven Branchen, zum Beispiel in der Stahlproduktion, den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid zu verringern. Klar ist also: Das Potential ist enorm. Doch in der Praxis sind noch einige technische und wirtschaftliche Hürden zu überspringen, bis Wasserstoff flächendeckend für Antrieb im Alltag sorgt. Eine wichtige Herausforderung: Die Elektrolyse muss noch günstiger gelingen. Dahinter verbirgt sich der Herstellungsprozess von Wasserstoff. Es geht darum, möglichst effizient Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zu zerlegen. Das geschieht in komplexen Anlagen mithilfe von Elektrizität. Stammt der dafür benötigte Strom aus erneuerbaren Energien, also etwa aus Wind- oder Solarkraftanlagen, fallen keine CO2-Emissionen an. Dann spricht man vom „grünen Wasserstoff“. Das Verfahren nennen Experten Power-to-Gas. Der so entstandene Wasserstoff kann weiterverarbeitet werden. In chemischen Prozessen entstehen beispielsweise synthetische Kraftstoffe, mit denen Fahrzeuge oder auch Flugzeuge angetrieben werden können. Im Gegensatz dazu steht der „graue Wasserstoff“, der heute zum größten Teil eingesetzt wird. Er entsteht mit Energie aus fossilen Brennstoffen. Dabei wird jedoch Kohlenstoffdioxid freigesetzt, das den Treibhauseffekt verstärkt. Noch ist die Erzeugung der grünen Wasserstoffvariante etwa viermal so teuer und rechnet sich für die meisten Einsatzzwecke häufig nicht.

Schulterschluss von Wirtschaft und Wissenschaft

Doch Forscher sehen sich auf einem guten Weg. Im staatlich geförderten Kopernikus-Projekt etwa arbeiten Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam an Fragen, wie sich Strom aus erneuerbaren Energien möglichst effizient in andere Stoffe überführen lässt. Oder: Wie lässt sich ein flächendeckendes Netz an Wasserstofftankstellen wirtschaftlich betreiben? Und könnte Wasserstoff, der mit sehr hohen Temperaturen verbrennt, nicht auch Industrieöfen befeuern? Zu dem Konsortium gehören neben Unternehmen wie Audi, Wacker Chemie oder Linde auch Umweltverbände wie der WWF oder der BUND, aus Berlin ist das Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie dabei. Ebenfalls im Fokus des Projekts: die Verringerung des Anteils des heutzutage bei der Elektrolyse noch häufig verwendeten seltenen und teuren Metalls Iridium. Im ersten Schritt geht es nun darum, die Menge des in Deutschland erzeugten grünen Wasserstoffs zu erhöhen. Die Vision der Bundesregierung: In den nächsten zehn Jahren sollen Produktionsanlagen von bis zu fünf Gigawatt entstehen. Einige Vorzeigevorhaben sind schon auf einem guten Weg – häufig mit finanzieller Unterstützung durch den Bund oder die Europäische Kommission. Im Rheinland entsteht auf dem Gelände einer Shell-Raffinerie die nach eigenen Angaben weltgrößte Wasserstoff-Elektrolyseanlage, die Strom aus erneuerbaren Energien verwendet. Erstes Ziel ist eine Kapazit.t von zehn Megawatt. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen soll später eine 100 Megawatt-Anlage entstehen. Im Hamburger Hafen ist eine ähnlich große Einrichtung geplant. Zum Vergleich: In ganz Deutschland sind aktuell Erzeugungsanlagen mit einer Nennleistung von 220 Gigawatt installiert, gut die Hälfte davon speist sich aus erneuerbaren Energien.

Der Industriekonzern Thyssenkrupp fährt in Duisburg langsam eine Anlage hoch, die aus schädlichen Hüttengasen der täglichen Produktion wertvollen Wasserstoff gewinnt. Zudem kündigte der Konzern in diesem Sommer an, deutlich mehr Elektrolyseanlagen zu installieren. Aus komplexen Einzelstücken wird so ein modulares Standardprodukt für die Industrie: „Insbesondere den energie- und ressourcenintensiven Industriezweigen wie der Kraftstoff-, Chemie- oder Stahlproduktion eröffnet erst grüner Wasserstoff den Weg zur Klimaneutralität“, sagt Christoph Noeres, Leiter des Bereichs Energy Storage and Hydrogen bei Thyssenkrupp. „Dafür braucht es Wasserelektrolyse im Gigawattmaßstab.“

Ein Energieträger mit vielen Gesichtern

Das Beispiel der Elektrolyse zeigt: Der Wandel wird nicht auf einen Schlag kommen, sondern sich Schritt für Schritt durch Branchen und Industrien arbeiten. Der Mut, sich auch ungewöhnlich anmutenden Pilotprojekten zu stellen, wächst dabei. Und die Anwendungsmöglichkeiten sind breit. Im Landkreis Prignitz, eine Regionalbahnstunde nordwestlich von Berlin, soll bereits in zwei Jahren ein mit Wasserstoff betriebener Zug verkehren. Mittelfristig könnten solche Loks Dieselzüge, die im ländlichen Raum noch häufig unterwegs sind, ablösen. Und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt ließ bereits vor einigen Jahren das viersitzige Flugzeug Hy4 abheben. Darin ist eine Brennstoffzelle verbaut, die den Wasserstoff in Antriebsenergie umwandelt, sodass die Triebwerke nur noch Wassertropfen emittieren. Das gleiche Prinzip kommt am Boden zum Einsatz. Einzelne Autohersteller haben bereits Serienmodelle im Angebot, die mit Wasserstofftank und Brennstoffzelle ausgerüstet sind. Das Problem: Das Tankstellennetz in Deutschland ist aktuell noch arg dünn. Sinnvoller könnte der Einsatz bei Lastwagen und Bussen sein, die regelmäßig auf einem Betriebshof zum Auftanken vorbeifahren können. Die Stadtwerke in Wuppertal in NRW ließen beispielsweise gerade die ersten zehn Busse mit Brennstoffzelle losfahren. Der eingesetzte Wasserstoff kommt von den städtischen Abfallbetrieben – Wind- und Solarenergie sorgen für die notwendige Kraft, um Biomüll zu verbrennen. Diese Energie treibt den Elektrolyseur an.

Wasserstoff arbeitet sich in den Alltag vor

Mit solchen vernetzten Lösungen wird Wasserstoff nach und nach näher an den Alltag vieler Menschen rücken. Im baden-württembergischen Esslingen entsteht aktuell das Stadtquartier Neue Weststadt – auf 100 000 Quadratmetern verteilen sich 500 Wohnungen, Büros sowie ein Neubau der lokalen Hochschule. Solarpaneele auf den Dächern sollen den Strom für eine grüne Elektrolyse liefern. Die Abwärme, die dabei entsteht, heizt die Gebäude im Viertel. Der Wasserstoff selbst versorgt eine Tankstelle im Quartier, kann an die Industrie verkauft werden und soll künftig noch ein Heizkraftwerk antreiben. Durch diese vielfältige Nutzung und die kurzen Transportwege hoffen die Entwickler auf einen Effizienzgrad von bis zu 90 Prozent – statt der sonst üblichen 60 Prozent. „Wir haben mit diesem Konzept die Elektrolyse in die Stadt hereingeholt“, sagt Tobias Nusser vom Projektkoordinator Steinbeis Innovationszentrum EGS. Durch die staatliche F.rderung der Wasserstoffstrategie dürften in den kommenden Jahren noch einige solcher Projekte entstehen. Ein aktuelles Beispiel: Im August gab das Wirtschaftsministerium 30 Millionen Euro frei, um das Projekt „Westküste 100“ zu fördern. An der schleswig-holsteinischen Nordseeküste soll in der Raffinerie in Heide aus Windkraft Wasserstoff erzeugt werden – in den nächsten fünf Jahren ist ein Elektrolyseur mit einer Leistung von 30 Megawatt geplant. „Wir sind sehr stolz darauf, aktiv an der Umsetzung der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung mitzuwirken und damit zur Energiewende beizutragen“, so Jean-Marc Bazenet, Geschäftsführer des Energieunternehmens EDF Deutschland, und Christelle Rouillé, Chefin der auf Wasserstoffprojekte spezialisierten Tochterfirma Hynamics, in einer aktuellen Pressemitteilung. Doch eigentlich denkt das Konsortium aus Wirtschaft und Wissenschaft

bereits in viel größeren Dimensionen. Dank der ersten Erfahrungen an der Westküste soll im Anschluss eine 700-Megawatt-Anlage möglich werden, Einspeisung von Energie in die Gasnetze und Produktion klimafreundlicher Treibstoffe für Flugzeuge inklusive. In Zukunft dürften mehr solcher Nachrichten mit Multiplikatoreffekt folgen. Auch das Forschungsministerium ist aktuell auf der Suche nach innovativen Vorhaben und hat einen Ideenwettbewerb für Wirtschaft und Wissenschaft ausgelobt: „Wir werden die Förderung von Forschung und Innovation zum grünen Wasserstoff weiter intensivieren – von der Erzeugung über Speicherung, Transport und Verteilung bis hin zur Anwendung“, verspricht Ministerin Karliczek.

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