Auf ein offenes Wort: Wie lässt sich Bescheidenheit leben?

Das Bedürfnis nach einem maß- und mußevollen Leben, das nicht allein durch Verzicht gekennzeichnet ist, sondern auch durch Freiheit und Genuss, wächst spürbar. Und es hat viele Facetten.

Corinna Rose, Ordnungscoach und Certified KonMari® Consultant
Foto: © Anne Klein Fotografie

“Ein minimalistischeres Leben hat für mich nichts mit schmerzhaftem Verzicht zu tun. Wenn überhaupt, mit dem Verzicht auf sowieso Verzichtbares im Leben. Der erste Schritt ist, innezuhalten und zu fragen: Was im Leben ist für mich essenziell? Das können klassisch Dinge sein, die ich bei einer Aussortieraktion hinterfrage. Aber natürlich auch Beziehungen, Hobbys oder Lebensgewohnheiten. Mit der Definition der Dinge und Lebensgewohnheiten, die uns glücklich machen, sagen wir gleichzeitig Nein zu allem, was uns keine Freude macht, uns keinen Nutzen bringt oder gar schädlich für uns ist. Mit meinen Kundinnen und Kunden ergründe ich täglich diese Fragen, und nach dem großen Loslassen folgt eine tiefe Zufriedenheit über mehr Raum und Zeit für die essenziellen Dinge im Alltag. Wenn wir loslassen, ergibt sich meiner Erfahrung nach ganz automatisch ein einfacheres, mußevolles Leben, in dem das Maßhalten nicht als Verzicht, sondern als Befreiung empfunden wird.“

“Bescheidenheit – die Überzeugung, nicht die Attitüde – ist für mich Resonanz/Resonanzfähigkeit/In-Resonanz-Treten mit Menschen, mit Dingen, mit der Umwelt. Ich sehe hier primär eine Wechselwirkung anstelle von Besitzen oder Konsumieren; Bescheidenheit als quantitativ limitierter Raum für Glücksempfinden, Teilhaben, Erleben und Entdecken: der Natur, der eigenen Natur, vieler unterschiedlicher Naturen. Und wenn man dann so erfüllt ist – ist das noch Bescheidenheit oder schon Maßlosigkeit?“

Nikolas Gleber, Wirtschaftskonzeptioner und Konzeptionskünstler, Gründer von Friendly Fur Berlin
Foto: © ENGEE.de Studio 2023

Philippe Werhahn, Designer und CEO von TingDing Upcycling Mode und kolla.berlin
Foto: © Achim Hatzius

“Bescheidenheit steht für mich nicht im direkten Zusammenhang mit Verzicht auf Luxus. Die Frage ist, was Luxus für mich persönlich bedeutet. Es hat nichts mit Anspruchslosigkeit und Zurückhaltung zu tun. Es ist für mich absolut positiv besetzt und hat viel mit Achtsamkeit und Demut zu tun. Demut würde ich direkt auf die Umwelt und die Natur beziehen. Die Natur darf nicht weiter ausgebeutet werden. Wir Menschen sollten eine gehörige Portion Bescheidenheit in der Welt vorleben – gegenüber unseren Mitmenschen, den Tieren und der Natur im Ganzen. Bescheidenheit sollte in der Modewelt für Qualität statt Quantität stehen, und das hat nichts mit dem Preis zu tun. Weniger ist mehr, und das, was man hat, sollte man auch abfeiern, es genießen und es sich schlicht gönnen – ohne damit zu prahlen oder sich moralisch, monetär über andere zu stellen. Eine bescheidene Leistung sollte ebenfalls neu besetzt werden, eher positiv assoziiert und ohne jegliche Ironie.“

“Beim Einkauf von Lebensmitteln bewegt uns neben dem Blick auf den Preis oft die Frage: Worauf habe ich heute Lust? Meine Antwort darauf lautet fast jedes Mal: auf etwas Regionales! Regionalität setzt natürliche Grenzen, die die Auswahl über das Jahr betrachtet stets nur temporär einschränken – kaum etwas ist für immer tabu. Ich freue mich auf Erdbeeren im Sommer und auf Grünkohl im Winter; lagerfähige Kulturen können das ganze Jahr über genossen werden. Und auch Milch, Getreide und das Fleisch für den Grill müssen nicht quer durch Deutschland transportiert werden: Fast immer gibt es Erzeuger in der Region oder zumindest aus dem eigenen Bundesland. Wer die Ernährung regional ausrichtet, erlebt nur anfangs vermeintlichen Verzicht. Mit den richtigen Rezepten und der Bereitschaft, Neues auszuprobieren, gewinnt der Speiseplan deutlich und macht einfach nur Freude.“

Ludolf von Maltzan, Inhaber und Geschäftsführer des Ökodorfs Brodowin in Brandenburg
Foto: © Wolfgang Schmidt

Roland Mary, Geschäftsführer des Restaurants Root im historischen Telegraphenamt in Mitte
Foto: © Julia Klotz

“Das ist definitiv relativ. Wir finden uns vielleicht bescheiden, wenn wir weniger von allem haben. In manch anderen Teilen der Welt wäre das, was dann übrig bleibt, immer noch der pure Luxus. Wichtig ist, nicht mit weniger Lebensfreude auskommen zu wollen. Um die Frage zu beantworten: Vielleicht lebt man bescheidener, wenn man sich einfach weniger wichtig nimmt.“

Text: Redaktion BBE
Foto: © RistoArnaudov
Datum: März 2023

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