Berlins neue Kleider

Berlins neue Kleider


Im Spannungsfeld zwischen deutscher Innovationskraft und Berliner Coolness hat die Stadt Themen gefunden, die die Modewelt von morgen prägen werden.

Paris, Mailand, London, New York: In der Liga der großen Modemetropolen hat Berlin lange nicht mehr mitgespielt. Im Spannungsfeld zwischen deutscher Innovationskraft und Berliner Coolness hat die Stadt jetzt Themen gefunden, die die Modewelt von morgen prägen werden: Fashiontech und Sustainability.

Text: Alexander Batke-Lachmann, Foto: Ullstein

Der Berliner Start-up-Boom ist ungebremst. Eine 2016 veröffentlichte Erhebung vermeldete 183 Unternehmen, die innerhalb eines Jahres im deutschen Silicon Valley Risikokapital erhalten haben – fast dreimal so viele wie in Bayern. Dabei erhielten die Start-ups in der Hauptstadt mit rund 2,1 Milliarden Euro 70 Prozent des deutschen Venturecapital-Volumens. Ein massiver Anstieg, der die Position Berlins auch im europäischen Vergleich untermauert. Das freut den Berliner Senat. Denn nach den mageren Arm-aber-sexy-Zeiten der Nullerjahre sorgt die Start-up-Szene nun für ein kleines Wirtschaftswunder. Und auch die Kreativwirtschaft der Hauptstadt scheint sich endlich zur Cashcow zu mausern, der Anteil an der Bruttowertschöpfung liegt mittlerweile bei 8,5 Prozent – ein Vielfaches des nationalen Durchschnitts.

Der Weg zur Fashionmetropole ist lang

Allein die Umsätze der Modebranche sind zwischen 2009 und 2013 um 118 Prozent auf rund 3,8 Milliarden Euro gestiegen, während parallel dazu die Beschäftigtenzahl um 42 Prozent auf 21 500 Erwerbstätige angewachsen ist. Die Fusion der Kreativindustrie mit der Hightech- und Start-up-Szene könnte auch den Sweet Spot für die Berliner Modeindustrie generieren. Der Weg zur Fashionmetropole jedoch ist lang. Die Zeitenwende für den Standort Berlin begann 2003, als die Düsseldorfer Norbert und Anita Tillmann die Modemesse Premium Premium zum ersten Mal veranstalteten und es gleichzeitig die Bread-&-Butter-Messe von Köln an die Spree zog. Vier Jahre später durfte sich die Berliner Modewoche dann Mercedes-Benz Fashion Week nennen, und fast sah man sich schon auf Augenhöhe mit den Big Four: Paris, Mailand, London und New York. Doch obwohl die Besucherzahlen der Modewoche kontinuierlich stiegen – von 50 000 Fachbesuchern in der ersten Saison auf über 200 000 im Januar 2016 – und die Premium mittlerweile eine der größten Modemessen Europas ist, schaffte die Stadt es nie in die Topliga der Fashionmetropolen.

Mit geschärftem Profil zu internationaler Beachtung

Berlin tat sich lange schwer, ein eigenes Profil als Modestandort zu schärfen, so wie das Paris mit der Haute Couture gelang oder Mailand mit der norditalienischen Textilwirtschaft. Außerdem stand lange eine andere Stadt im Fokus, die als deutsche Modemetropole und Messestandort galt: Düsseldorf. Die altehrwürdige westdeutsche Stadt verfügte zudem über ein zahlungskräftiges Publikum. Was blieb da für Berlin? Nur die Coolness? Immerhin zehn Berliner Hochschulen bieten heute Studiengänge mit Modebezug an, viele hier produzierte Modemagazine gelten als international beachtete Trend-Seismografen, und selbst eine Marke wie Gucci versucht, am Berlin-Hype zu partipizieren, indem sie ihre Frühjahr/Sommer-Kampagne 2016 in der grau-bunten Plastikbeton-Ästhetik des Alexanderplatzes inszenierte.

Ingenieurs-Knowhow trifft den kreativen Spirit Berlins

Fast unbemerkt haben sich allerdings in den letzten Jahren zwei Themen herauskristallisiert, für die der Modestandort Berlin inzwischen international beachtet wird: Fashiontech und Sustainability. Zwei Begriffe, die eng miteinander verwoben sind. Schließlich bezeichnet nachhaltige Mode längst nicht mehr nur Selbstgestricktes, sondern zum Beispiel selbstwachsende Sci-Fi-Materialien oder neue Recyclingverfahren. Berlin positioniert sich hier als Zukunftsstandort an der Schnittstelle zwischen typisch deutschem Ingenieurs-Knowhow und dem kreativen Spirit der Hauptstadt. So steigt mit jeder Saison die Anzahl der Aussteller, die auf den Messen Premium, Seek und Bright nachhaltige Mode anbieten. Mit den beiden von der Messe Frankfurt veranstalteten Fachausstellungen für Eco-Fashion, Greenshowroom und Ethical Fashion Show Berlin, sind gleich zwei Veranstaltungen der Fashion Week ganz auf das Thema nachhaltige Mode fokussiert. Berliner Labels wie Ewa Herzog haben Eco-Fashion aus der Müsli-Ecke auf den Laufsteg gebracht und ein Zeichen gegen den Fast-Fashion-Trend gesetzt. Bei der Designerin Esther Perbandt beinhaltet das zudem eine kulturelle Dimension. Ihre puristischen Unisex-Kollektionen sind nicht nur in puncto faire Produktionsbedingungen zeitgemäß, sondern lösen auch die Grenzen zwischen tradierten Geschlechterrollen auf. Mandie Bienek, Geschäftsführerin von Press Factory und stellvertretende Vorsitzende des Fashion Council Germany, verortet hier das Potenzial der Stadt: „Berlin braucht eine eigene Identität, anstatt immer nur nach Paris oder Mailand zu schielen. Gerade bei den Technologiethemen kann sich ein deutscher Standort international glaubwürdig positionieren.“

Bekleidungsindustrie befindet sich im Umbruch

Die Frage, wie sich in Zukunft das Zusammenspiel von Mode und Technik gestalten könnte, hat im Rahmen der Berliner Modewoche mit der mittlerweile siebten Fashiontech-Konferenz ein Format gefunden. Drei Themenbereiche stehen im Vordergrund: E-Commerce und die Zukunft des Handels, Wearables und Design, digitales Marketing und Kommunikation. Hier sollen neben smarter Kleidung und Accessoires auch neue Businessmodelle vorgestellt werden, die Gestaltung, Produktion und Vertrieb von Mode verändern. Es sollen die Herausforderungen des Onlinehandels besprochen und neue Wege gefunden werden, in einen Dialog mit dem Kunden zu treten. Schließlich steht die Bekleidungsindustrie vor gewaltigen Umwälzungen: Digitalisierung, Industrie 4.0 , neue Produktkategorien, neue Materialien und immer schneller werdende Produktzyklen.

Die Fashiontech-Szene organisiert sich

All dies sind Zukunftsfelder, in denen auch die Politik und Verbände der Start-up-Metropole Wachstumspotenziale verorten. Vor zwei Jahren hatte die Senatsverwaltung für Wirtschaft bereits einen eigenen Wettbewerb für WearableIT/FashionTech ausgelobt. Und erst im Dezember 2016 haben sechs Fashion-Start-ups als Schnittstelle zur etablierten Textil- und Modeindustrie in Berlin eine Fachgruppe innerhalb des Bundesverbandes Deutsche Startups gegründet. Mit anderen Worten: Die Fashiontech-Szene ist dabei, sich zu organisieren, und weiß die Politik im Rücken. Liegt in der Nische also die Kraft? Viele der großen Namen der deutschen Textilindustrie sind in den letzten Jahren ins Taumeln geraten, große Designer wie Strenesse oder Escada, Einzelhändler wie Steilmann, zu dem Adler gehört, ebenso.

Alte Regeln gelten nicht mehr

Gewinner von Globalisierung und Digitalisierung sind die italienischen und französischen Luxusmarken und die großen internationalen Billigketten, das Mittelfeld, in dem traditionell die deutschen Modemarken beheimatet waren, gerät immer weiter unter Druck. Gleichzeitig verschwindet mit dem Multilabel-Fachhandel ein wichtiger Vertriebskanal. Für die deutsche Modebranche, die viel zu lange in der Komfortzone verharrte, heißt das: zurück auf Start. „Wir brauchen wieder mehr Mut auf allen Ebenen“, fordert auch Mandie Bienek, „das Kaufverhalten und die Markenidentitäten haben sich rasant verändert. Da reicht es nicht, nur zu schauen, wie es die anderen, die Großen, machen. Neustart also. Das kann Berlin ja.“

Wir haben Premium-Geschäftsführerin Anita Tillmann im Rahmen der Berlin Fashion Week getroffen und mit ihr über die FASHIONTECH gesprochen. Sehen Sie hier das Interview.

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