Das Beste zweier Welten

Immer mehr Menschen aus Berlin zieht es aufs Land – zum Arbeiten, zum Abschalten, für einen Tag oder drei Wochen. Kein Wunder: Es gibt viele Konzepte für ein Landleben auf Zeit, zugeschnitten auf die Bedürfnisse von Großstädtern. Das ermöglicht auch längere Aufenthalte. Und so manch eine Berlinerin bleibt für immer.

WAS GIBT ES IN DER NÄHE DER STADT? Das war die erste Frage, die wir uns gestellt haben“, beschreibt Benjamin Rohé den Start von Project June. Die Antwort darauf fand der Berliner IT-Unternehmer in einem kleinen Dorf südlich der Spreemetropole, im brandenburgischen Jüterborg. Dort, wo zu DDR-Zeiten in einem volkseigenen Betrieb Rinder und Schweine gezüchtet wurden, ist nun alles auf die Bedürfnisse der Community ausgerichtet. Dieses Miteinander ist ein wichtiger Teil des Konzepts, denn Rohé möchte seinen Gästen die Möglichkeit geben, „sich kennenzulernen und vielleicht auch Synergien zu entdecken“. Ein Ort der Begegnung ist June allemal: Die Anlage ist ein für Brandenburg typischer Vierseithof, dessen Gebäude einen großen Innenhof umschließen. Benjamin Rohé übernahm das Objekt samt 13 Hektar Land 2021, nachdem der Vorbesitzer mit der Idee einer privaten Nutzung gescheitert war. „Es gab bereits ein Hotel, eine Gastronomie und den Reitbetrieb; das alles sollte erhalten werden.“ Gemeinsam mit den Mitgliedern sei die konzeptionelle Ausrichtung für June erarbeitet worden, sagt der Unternehmer, „dabei war die Bedingung, dass sich Hotel und Gastronomie selbst tragen müssen“. Der Umbau des 2004 aufwendig sanierten Objekts begann Anfang 2022 und ist inzwischen abgeschlossen. Heute bietet June den Mitgliedern, aber auch Tagesgästen einen „dritten Ort“ zwischen Arbeit und Freizeit. Wer sich für eine Mitgliedschaft entscheidet, übernachtet auf Viersterne-plus-Niveau in einem Gartenapartment und hat kostenfreien Zugang zu den Meetingräumen. Auch die Benutzung von Fahrrädern, Skates und Yogamatten ist inklusive. Darüber hinaus bietet June Extraservices wie eine Postanschrift. Und selbstverständlich könne der Gast auch seine Tasche stehen lassen, wenn er mal kurz in die Stadt fahre – was mit dem Regionalexpress 45 Minuten dauert. All das komme gut an, sagt Benjamin Rohé, sogar so gut, dass es für die Mitgliedschaft inzwischen eine Warteliste gibt.

BRANDENBURG, INSBESONDERE DIE REGION HOHER FLÄMING, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem echten Hotspot für neue Co-Workingund Co-Living-Konzepte entwickelt. Besonders aktiv ist Coconat mit Sitz im Dörfchen Klein Glien bei Bad Belzig – Coconat steht für die drei Schwerpunkte Community, Concentrated Work und Nature. Das „Workation Retreat“ zählt zu den Pionieren in diesem Bereich und entwickelt sein Angebot ständig weiter. „Das Potenzial haben wir bereits vor neun Jahren erkannt“, sagt Julianne Becker, Co-Gründerin und CEO von Coconat, „die Leute wollten einen neuen Lifestyle.“ Die Coronapandemie habe dem 2014 an den Start gegangenen Retreat einen zusätzlichen Push beschert, mit der Folge: „Während die Co-Working-Spaces in der Stadt an Attraktivität verlieren, nimmt die Bedeutung des Arbeitens in der Natur zu.“ Und von Natur gibt es reichlich um den zwischen 1660 und 1670 erbauten Gutshof, der 2018 komplett renoviert worden ist. Um die steigende Gästezahl beherbergen zu können, wurde das Workation Retreat nachträglich um ein Nachbarhaus erweitert. Der Community-Gedanke wird durch ein Café in der Gutshofscheune und diverse Angebote wie Sauna, Badeteich und Bienenzucht gefördert. Und wer in der Natur nicht nur arbeiten, sondern auch schlafen möchte, kann seinen Schlafsack im Tipi auf dem Zeltplatz ausrollen. Für jene, die es etwas mondäner mögen, bietet Coconat Glamping (Luxuszelten) an. Alles in unmittelbarer Nähe des Gutshauses, im ehemaligen englischen Landschaftsgarten des Anwesens. Über die Aktivitäten im Workation Retreat hinaus engagiert sich Coconat im Verein Smart Village und bei netzwerk zukunftsorte, um das Leben und Arbeiten auf dem Land noch besser zu machen. „Wir sehen uns als Katalysator in der Region“, beschreibt Julianne Becker die Zusammenarbeit. Ziel sei es, Menschen dauerhaft für ein modernes Landleben zu begeistern. Und das funktioniere: „2023 haben sich 120 neue Haushalte im Hohen Fläming angesiedelt.“

DAFÜR, DASS IMMER MEHR MENSCHEN „FÜR IMMER“ AUFS LAND ZIEHEN, engagiert sich das Projekt KoDorf, das in das Coconat-Netzwerk eingebunden ist. KoDorf ist eine Initiative von Frederik Fischer, dem Gründer und CEO der Neulandia UG. Fischer, der selbst auf dem Land aufwuchs und danach in mehreren Großstädten lebte, möchte mit seinem Projekt den nächsten Schritt gehen – Co-Living als permanentes Wohnmodell. „Großzügige Homeoffice-Regelungen, die ernüchterden Erfahrungen von Großstädtern im Lockdown und der große Wunsch nach Natur und Gemeinschaft haben eine beginnende Stadtflucht ausgelöst“, skizziert Fischer die Ausgangslage für das KoDorf, das im brandenburgischen Wiesenburg entstehen soll. Minimalistisches Wohnen mit großzügigen Gemeinschaftsflächen sieht der Bebauungsplan vor: „Wir haben das Prinzip der Gartenstädte weiterentwickelt“, sagt der Unternehmer, „kleine Häuser und kurze Wege.“ Um sich möglichst unabhängig von Investoren zu machen, wurde für das Bauvorhaben eine Genossenschaft gegründet. Das Projekt ist in den Anfängen, bis zum ersten Spatenstich dürfte es noch etwas dauern. Fischer nutzt die Zeit, um Interessenten mit seiner Begeisterung für die Idee anzustecken, indem er mit Neulandia „Summer of Pioneers“ veranstaltet. Dabei werden in Zusammenarbeit mit einer Kleinstadt oder Kommune im ländlichen Raum jährlich 20 Berufstätige aus Kreativ- und Digitalberufen eingeladen, dort einen Monat lang zu vergünstigten Konditionen möbliert zu wohnen, samt Co-Working-Space und bester Internetverbindung Im Gegenzug ist soziales Engagement in der Gemeinde erwünscht. „Immer wieder verlängern Pioniere ihren Aufenthalt vor Ort oder verlegen komplett ihren Wohnsitz“, zieht Frederik Fischer Bilanz, „und auch angeschobene soziale oder kulturelle Projekte werden fortgeführt.“ Für die Menschen – die Zugezogenen wie die Einheimischen – sei das eine Win-win-Situation. Und wer sich dann doch gegen „für immer“ entscheide, der habe es zumindest versucht – unter echten Bedingungen.

NEBEN BRANDENBURG MACHT INZWISCHEN AUCH ein weiteres Bundesland in der Nähe Berlins beim Thema Co-Working und Co-Living von sich reden: Mecklenburg-Vorpommern. Dort befindet sich das St. Oberholz Retreat, direkt an der Müritz und nur eine Autostunde von Berlin entfernt. „Wir wollen Orte und Arbeit anders denken“, sagt Ansgar Oberholz, Mitgründer und CEO von St. Oberholz und Pionier der Berliner Co-Working-Szene. Seit 18 Jahren betreibt das Unternehmen ein Café am Rosenthaler Platz, in dem digitales Arbeiten genauso selbstverständlich ist wie handgefilterter Kaffee. Auch Co-Working- Spaces und Eventlocations zählen zum Portfolio. Das Retreat in Mecklenburg erlebt gerade seine Eröffnungsphase. „Alle sind vernetzt und arbeiten dezentral“, beschreibt Oberholz seine Zielgruppe, „und wir haben uns gefragt: Was brauchen Teams, was wollen Freelancer?“

Auf jeden Fall neben der Möglichkeit zu arbeiten die Option, sich rundherum verwöhnen zu lassen: In Leizen-Woldzegarten treffen die Annehmlichkeiten eines hochklassigen Hotels auf modernste Co-Working- Strukturen. „Wir bringen das beste am Urbanen in diesen Gutshof, für Entschleunigung und Erdung, Aktivität und Kreativität“, beschreibt Oberholz das Konzept. Überall sei die „Zentrierung auf den Menschen“ erlebbar, sagt der Unternehmer, der seinen Gästen neben Zimmern und Apartments auch Wellnessbereich und Pool bietet, alles inmitten schönster Natur. Das Retreat, sagt er, zeige der Hotellerie neue Möglichkeiten auf: „Hotels müssen neu gedacht werden, näher ans Arbeiten.“ Derzeit ist das nächste Haus in Planung, der Standort ist diesmal in Brandenburg. „Wir wollen zunächst um Berlin herum expandieren“, sagt Ansgar Oberholz, „und später auch europaweit präsent sein.“

GUTE AUSSICHTEN ALSO FÜR ALL JENE, die ihre Vorstellungen vom Landleben verwirklichen möchten, ohne auf die Stadt zu verzichten. Das wäre ja auch schade – Berlin ist schließlich Berlin.

Text: Sintje Wilms
Fotos: © Tilman Vogler Photography, © agmm - architekten + stadtplaner, © Projectjune.de, © Pavel Becker
Datum: März 2023

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