Die Industrie macht Druck

Die Industrie macht Druck


Berlin spielt eine Vorreiterrolle in der industriellen Anwendung des 3-D-Drucks. Die Technik könnte eine neue Chance für die Stadt als Industriestandort sein, meinen Experten.

Berlin spielt eine Vorreiterrolle in der industriellen Anwendung des 3-D-Drucks. Die Technik könnte eine neue Chance für die Stadt als Industriestandort sein, meinen Experten.

Text: Steffen Ermisch, Manuel Heckel, Foto: Pixabay

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert düst die erste ICE-Generation quer durch die Republik, und viele Ersatzteile sind längst nicht mehr lieferbar. Dem Mangel begegnet die Deutsche Bahn mit einem kreativen Ansatz: Müssen Teile ersetzt werden, lässt das Unternehmen diese immer häufiger per 3-D-Druck produzieren. Den Auftakt machte im Oktober 2015 ein Mantelhaken, inzwischen seien auf diesem Weg schon mehr als 6000 Teile hergestellt worden, sagte die zuständige Deutsche-Bahn-Managerin Stefanie Brickwede kürzlich dem Magazin factory. Die Bandbreite reicht von Lüftungsgittern über Kopfstützen bis hin zu Schildern in Blindenschrift.

Die Pläne der Bahn gehen noch weiter. Im Verein Mobility goes Additive, dessen Geschäftsführerin Brickwede ist, treibt der Konzern die Vernetzung der Branche voran. Mehr als 90 Unternehmen, Institutionen und Forschungseinrichtungen schlossen sich seit der Gründung Ende 2016 an, darunter industrielle Schwergewichte wie Siemens, Volkswagen und Knorr-Bremse. Nach eigenen Angaben ist Mobility goes Additive inzwischen das international größte Netzwerk für die industrielle additive Fertigung. Eine wichtige Haltestelle für die Produktionstechnik der Zukunft ist Berlin: Ende 2018 eröffnete der Verein eine Geschäftsstelle im Mariendorfer Marienpark. Rundherum ent- steht ein Campus, der Startups und Wissenschaftler anlocken soll.

Der Campus ist Bestandteil des „Masterplans Industriestadt Berlin“, den der Senat im September verabschiedete. Die Vision: Mithilfe der additiven Fertigung, wie der industrielle 3-D-Druck auch genannt wird, sollen Produktionsunternehmen vor Ort wieder erstarken. Ein großes Standortplus der Hauptstadt ist die lebendige Digitalszene, denn für den Erfolg der Technologie ist schlaue Software nötig. „Für die Berliner Wirtschaft hat die additive Fertigung als Schnittstelle und Bindeglied zwischen Digitalwirtschaft und Industrie eine wichtige Bedeutung“, sagte Wirtschaftssenatorin Ramona Pop im vorigen Jahr.

Von der Schuhsohle bis zum Organ

In Fachkreisen hat sich die Hauptstadt als Zentrum für den 3-D-Druck längst einen Namen gemacht. Bereits zum dritten Mal fand im März das Forum „Additive Manufacturing“ statt. Mehr als 60 Aussteller

präsentierten ihre Produkte und Dienstleistungen, die begleitende Konferenz zog nach Angaben der Veranstalter mehr als 850 Teilnehmer aus verschiedenen Branchen an. Vertreten waren unter anderem Experten aus der Automobilwirtschaft, der Luft- und Raumfahrt, dem Maschinenbau und der Medizintechnik.

Die Zahl und die Bandbreite der möglichen Anwendungsfälle scheinen grenzenlos: Sportschuhhersteller nutzen 3-D-Druck für Einlegesohlen, erste Optiker stellen individuelle Brillengestelle her, und auch bei Implantaten und Prothesen ist die additive Fertigung bereits üblich. Mit Bioprinting könnten künftig sogar Organe künstlich hergestellt werden. Forschern gelang es, aus menschlichen Zellen ein Miniherz zu formen. Auch große Objekte kommen bereits aus Druckern: Das US-Start-up Local Motors beispielsweise fertigt Minibusse additiv. Und Forscher der Technischen Universität Eindhoven wollen bis Ende des Jahres gar eine kleine Siedlung mit 3-D-gedruckten Häusern bezugsfertig erstellen.

Weltweit setzen allein börsennotierte Unternehmen in diesem Jahr mit 3-D-Druckern und den dazugehörigen Materialien und Dienstleistungen mehr als 2,7 Milliarden Dollar um, schätzt die Unternehmensberatung Deloitte – gegenüber 2018 eine Steigerung um 12,6 Prozent. Der Treiber für das Wachstum: Die Vielfalt verfügbarer Verfahren und Materialien nimmt zu. Relevant im industriellen Kontext ist beispielsweise das selektive Laserschmelzen, bei dem ein Laserstrahl Metallpulver verschmilzt. Beim Fused Deposition Modeling werden Kunststoffe in einem Druckkopf geschmolzen und Schicht für Schicht aufgetragen, und mittels Stereolithografie werden gezielt Stellen in flüssigen Harzen ausgehärtet.

Auf die Kunststoffverarbeitung spezialisiert ist BigRep. 2014 gegründet, hat sich das Start-up mit Sitz in Berlin-Kreuzberg zu einem der weltweit führenden Hersteller großformatiger 3-D-Drucker gemausert. Rund 25 Millionen Euro haben Wagniskapitalgeber schon in das Unternehmen investiert. Unter den Kunden sind viele Global Player, beispielsweise die Fluggesellschaft Etihad, der Autobauer Ford und der Technologiekonzern Siemens. Letzterer will seinerseits die Forschung an Zukunftstechnologien wie dem 3-D-Druck auf einem in Berlin- Spandau geplanten Campus vorantreiben.

Schicht für Schicht zum individuellen Produkt

Pionierarbeit leistet BigRep auch mit seinen mehr als 90 Mitarbeitern, wenn es etwa darum geht, neue Anwendungsfelder für die additive Fertigung zu finden. Im November präsentierte das Startup ein mit seinen Druckern hergestelltes elektrisches Motorrad, inklusive pannensicherer Reifen aus Kunststoff. „Man kann die Technologie im Prinzip überall verwenden. Die Grenzen setzt uns eigentlich nur das Material“, sagte Vorstandschef Stephan Beyer dem Portal Berlin Valley.

Der große Vorteil des 3-D-Drucks: Ingenieure und Designer können Bauteile ganz neuartig konstruieren. In der traditionellen Metallverarbeitung müssen Ausgangsstücke mechanisch so lange bearbeitet werden, bis die gewünschte Form erreicht ist. Bei Kunststoffen sind klassischerweise passende Gussformen erforderlich. Die additive Herstellung dagegen ermöglicht filigranere Strukturen und komplexere Geometrien – oft können Bauteile verkleinert oder mehrere Komponenten zusammengefasst werden.

Vor allem damit verbundene Gewichts- und Materialeinsparungen machen den 3-D-Druck in bestimmten Bereichen für die Serienproduktion interessant. Airbus beispielsweise stellt Verriegelungswellen für Türen des A 350 aus Titanpulver her. Das ist nicht nur günstiger in der Fertigung, sondern das Bauteil wiegt nun um fast die Hälfte weniger, was im Flugbetrieb Kerosin spart. Und das Team von BigRep präsentierte im April den nach eigenen Angaben ersten vollständig 3-D- gedruckten Flugzeugsitz. Auch hier das Versprechen: Die Sitze sollen bis zu 50 Prozent leichter sein als herkömmlich produzierte.

Update für die gesamte Produktion

Geräte und Materialien sind zwei zentrale Elemente für eine 3-D- Druck-Erfolgsgeschichte. Eine Schlüsselrolle kommt aber auch der Software im Hintergrund zu. Denn die alternative Produktionsmethode erfordert ein Update an zahlreichen Stellen im Unternehmen. Das fängt in der Konstruktion an, wo in CAD-Programmen aus drei- dimensionalen Modellen digitale Druckvorlagen erstellt werden. Diese Daten müssen aufbereitet werden und zu den passenden 3-D- Druckern gelangen, die im eigenen Betrieb stehen können – oder die Daten werden über eine digitale Plattform an andere Hersteller mit entsprechenden Druckern und freien Kapazitäten weitergeleitet.

Das auf die Automatisierung von Prozessen rund um die additive Fertigung spezialisierte britische Softwareunternehmen AMFG erhielt im Frühjahr staatliche Fördergelder, um an Machine-Learning-Algorithmen zu arbeiten. In Berlin entwickelt unter anderem 3Yourmind neue Software für die additive Fertigung. Ein Produkt des 2014 gegründeten Startups setzt ganz vorn in der Wertschöpfungskette an: Der „Part Identifier“ wertet Herstellungskosten, Einsatzhäufigkeit und Materialeigenschaften von Produkten aus und weist dann Firmen auf Bauteile hin, die sich am ehesten für das 3-D-Druck-Verfahren eignen.

Im März verkündete das Start-up mit Sitz in Charlottenburg eine Partnerschaft mit der Deutschen Bahn. Der Konzern will das Wissen von Computern und Menschen zusammenbringen: In einem Wettbewerb sollen Mitarbeiter die Software nutzen, um neue Einsatzmöglichkeiten für den 3-D-Druck auszumachen. Zu den Dateien auf den Servern der Deutschen Bahn dürften also einige dazukommen – und die Zahl der individuell produzierten Bauteile deutlich ansteigen. Das Ziel: Schritt für Schritt soll ein digitales Ersatzteillager entstehen.

Diesen Artikel lesen Sie auch in unserem Magazin „diskurs Nr. 29“. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

 

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