Die Welt auf den Kopf stellen

Die Welt auf den Kopf stellen


Eigentlich wollte Nicole Büttner in die Entwicklungshilfe gehen, doch dann entschied sie sich für die Wirtschaft. 2019 gründete sie Merantix Labs, um künstliche Intelligenz in der deutschen Industrie fest zu verankern. Die Erfolge der Unternehmerin sprechen für sich.

Eigentlich wollte Nicole Büttner in die Entwicklungshilfe gehen, doch dann entschied sie sich für die Wirtschaft. 2019 gründete sie Merantix Labs, um künstliche Intelligenz in der deutschen Industrie fest zu verankern. Die Erfolge der Unternehmerin sprechen für sich.

Text: Michael Fuchs, Foto: Meike Kenn

Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Dass künstliche Intelligenz (KI) die Welt, wie wir sie kennen, so ziemlich auf den Kopf stellen wird, daran hat Nicole Büttner keinen Zweifel: „Jede Industrie wird sich komplett verändern.“ Seit 2019 ist Nicole Büttner Gründerin und Geschäftsführerin von Merantix Labs und im Vorstand von Merantix, einem Unternehmen unweit des Berliner Nordbahnhofs, das KI in die deutsche Industrie tragen will. Wie das gehen soll – darüber machen sich auf dem 5400 Quadratmeter großen Campus rund 450 Menschen in 60 Teams Gedanken: Maschinenbauer, Betriebs- und Volkswirtschaftler, Physiker, Informatiker, Neurowissenschaftler, aber auch Investoren und Corporates. Gemeinsam haben sie bislang rund 100 Projekte auf den Weg gebracht.

Der große Umbruch durch Computerprogramme, die dem menschlichen Denken nachempfunden sind – in manchen Bereichen ist er schon im Gang, in anderen wird es womöglich etwas dauern. „Beim autonomen Fahren gibt es noch ein paar wirklich komplexe Probleme, im Stadtverkehr zum Beispiel“, sagt Nicole Büttner. Doch wenn es um „die großen Herausforderungen“ gehe, um die Entwicklung von Medikamenten oder um erneuerbare Energien, könne KI enorme Mengen an Zeit und Ressourcen sparen. Auch in der Fertigung und Logistik, im Rechtswesen, in der Finanzbranche, selbst im Einzelhandel habe KI viel Potenzial.

Viel Grün, viel Glas, viele Sitzgelegenheiten. Stühle, Sofas, hier und da ein bunter Hocker. Der große Tisch aus hellem Holz, die Highback-Sessel mit angebautem Tischchen, dazwischen Inseln voller Pflanzen. Und irgendwann geht jemand im Kapuzenpulli vorbei. Bei Merantix Labs herrscht Start-up-Atmosphäre. Nicole Büttner trägt so ziemlich das Gegenteil eines Hoodies: einen schwarzen Pullover voller Kussmünder – ein riesiger mittendrauf. Sie hat eine Tochter, ein Sohn ist unterwegs, sie pendelt zwischen Zürich und Berlin, auch mal nach Karlsruhe zu ihren Eltern. „Ich bin ein bisschen verstreut, aber sehr fokussiert.“ Sie lacht.

„Wir haben hier eine große KI-Expertise“, sagt Nicole Büttner. „Und wir haben gelernt, wie wir andere Experten andocken können, damit schnell etwas dabei herauskommt. Unsere Dienstleistung ist, in ein Unternehmen das Momentum hineinzubringen, das nötig ist, um so etwas anzuschieben.“ Merantix Labs liefert Strategien: Wo kann man mit KI anfangen? Wie kann man sinnvolle Anwendungen finden? Was ist schon machbar, was noch nicht? Aber Nicole Büttner bietet auch fertige Machine-Learning-Modelle an, die etwa Hautkrebs diagnostizieren und Verträge klassifizieren können. Oder Schäden an Autos dokumentieren: Gemeinsam mit der TÜV-Tochter Adomea entwickelte Merantix Labs ein System, das in einer Minute ein hoch detailliertes Bild der Außenhülle eines Fahrzeugs erstellt und darin selbst kleinste Beulen oder Kratzer erkennt und kategorisiert – oft zuverlässiger als ein menschlicher Experte.

Aber was ist KI eigentlich genau? Und was unterscheidet die Technologie von dem, was Computer normalerweise tun? „Beim klassischen Programmieren stelle ich Regeln auf, nach denen die Daten verarbeitet werden: Wenn dies zutrifft, dann passiert das. Doch bei manchen Aufgaben, etwa einer Gesichtserkennung, sind die Regeln so komplex, dass es ewig dauern würde, sie aufzustellen“, sagt Nicole Büttner. „KI dreht das Prinzip um: Ich werfe alle Daten auf das Programm, und es sucht sich die Regeln selbst, also die Muster und Strukturen dahinter.“ Künstliche Intelligenz findet die Nadel im Heuhaufen – ohne zu wissen, was eine Nadel oder ein Heuhaufen ist.

Das klingt nach der ganz großen Revolution, doch tatsächlich ist die Technologie schon einige Male an sich selbst gescheitert. Etwa Anfang der Siebzigerjahre, als Wissenschaftler die übertriebenen Erwartungen an künstliche Intelligenz so sehr dämpften, dass man heute vom „KI-Winter“ spricht – Programme zur Sprach- und Bilderkennung machten einfach zu geringe Fortschritte, Forschungsgelder wurden gestrichen. Erst seit Mitte der 2000er steht KI dank Firmen wie Google und Facebook auf festerem Boden. Und der große Umbruch ist in Sichtweite.

Ihren eigenen erlebte Nicole Büttner kurz bevor sie in den Beruf einstieg. Sie hatte im schweizerischen St. Gallen und in Stockholm Volkswirtschaft studiert, an der kalifornischen Uni Stanford gearbeitet und plante eigentlich etwas ganz anderes. „Ich wollte in die Entwicklungshilfe. Ich hatte mich bei der Weltbank beworben, Praktika dort, bei der UNO, im Europäischen Parlament und beim Europarat hinter mir, mich mit Mikrofinanzsystemen beschäftigt. Alles zielte darauf ab. Aber dann habe ich gemerkt: Das will ich nicht.“ Stattdessen arbeitete sie erst einmal für einen Hedgefonds in Paris, vier Jahre lang. „Das war mir dann doch ein bisschen zu wenig Purpose“, sagt sie und lacht kurz auf. Sie wählt das englische Wort, wie sie es im Gespräch manchmal tut, wenn es treffender ist. Weil Sinn, Zweck, Ziel im Deutschen drei unterschiedliche Dinge sind und im Englischen eben nicht – ganz einfach.

Nicole Büttner entschied sich, bei Auctionomics mitzumachen, einem Unternehmen ihres ehemaligen Stanford-Professors Paul Milgrom. Er ist Experte für Spieltheorie und wurde 2020 mit dem Nobel-Gedächtnispreis ausgezeichnet. „Ich dachte, ich mache mal drei Monate lang ein Projekt mit und suche mir dann einen neuen Job“, sagt Nicole Büttner. „Aber ich bin drei Jahre geblieben.“ Anschließend gründete sie Dataquotient, ein Start-up zur Personalvermittlung – und dann Merantix Labs als Tochter des Venturecapital-Gebers Merantix, in dessen Management Board sie 2020 berufen wurde. Merantix hatte da bereits einen Fonds aufgesetzt, der inzwischen 30 Millionen Euro umfasst. Damit sollen zehn neue KI-Start-ups auf den Weg gebracht werden – nach sieben bereits erfolgten Ausgründungen. Eine davon: Merantix Labs.

Ihre wichtigste Aufgabe, sagt sie, sei es, Brücken zu bauen. Das mag einfach klingen, ist aber in der KI-Branche von besonderer Bedeutung: „Es geht darum, die Verbindung herzustellen zwischen dem Biochemiker oder dem Ingenieur und dem Programmierer für Machine Learning. Es geht darum, den Raum für eine Lösung zu entwickeln.“ Neue Brücken im eigenen Team schlagen, sozusagen. Aber auch nach außen, zu den Kunden, den Unternehmen. Mut machen, den Schritt zu wagen – von der traditionellen Firma zur Industrie 4.0.

Dass immer mehr dazu bereit sind, lässt sich an der Liste der Partner von Merantix deutlich ablesen – zu denen Techunternehmen wie Amazon und SAP zählen, aber auch Continental und Evonik, die Telekom, der TÜV und das Land Berlin. Dass künstliche Intelligenz sich in den vergangenen Jahrzehnten oft schwertat, lag – da sind sich die Experten einig – vor allem an uns selbst: Menschen sind einfach unglaublich gut darin, Dinge zu erkennen und zu lernen. Dass es diesmal aber doch klappen könnte mit dem Durchbruch der Technologie, liegt am Fortschritt. Mit dem rasant wachsenden Internet ist die Menge an Informationen explodiert, mit denen man eine KI füttern kann – und die ist ganz verrückt danach. „Wenn ein Computer genug Daten hat, wird er auch sehr, sehr gut darin, Muster in diesen Daten zu erkennen“, sagt Nicole Büttner. Im Idealfall wirft man gleich das ganze Internet auf ein Programm. Was unser Gehirn im Laufe eines Lebens speichert, kann jetzt auch ein Computer lernen – so in etwa.

Das ist die Theorie. In der Praxis löst künstliche Intelligenz längst nicht nur große, sondern auch alltägliche Probleme. Algorithmen analysieren medizinische Bilder, können etwa Tumorzellen identifizieren und so bei der Diagnose helfen. In der Qualitätskontrolle eingesetzt, erkennen sie Materialfehler in der Fertigung und werden auch genutzt, um für einen fehlerlosen Betrieb von Produktionsanlagen zu sorgen.

Das klingt so gar nicht nach bösartigen Robotern, die nach der Weltherrschaft streben – dem gängigen Filmklischee über künstliche Intelligenz. Allerdings haben auch Geistesgrößen wie der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking oder Tesla-Gründer Elon Musk vor den Gefahren der KI gewarnt. Gefahren, die Nicole Büttner nicht leugnet. „Man trainiert die Modelle auf bestimmte Datensätze, und die werden dann zu einer Realität. Aber man muss sich dabei immer fragen: Wie gut ist denn dieser Ausschnitt meiner Realität?“ Ein Beispiel: Wird ein Algorithmus, der Bewerber für einen Job vorsortieren soll, nur mit „alten weißen Männern“ gefüttert, stellt das Unternehmen womöglich weiterhin nur alte weiße Männer ein. Und: „Es gibt natürlich auch militärische Anwendungsgebiete, die wir für gefährlich halten“, sagt Nicole Büttner. Merantix Labs hat sich deshalb Ethikrichtlinien gesetzt, in denen sich das Start-up verpflichtet, KI verantwortlich, offen und transparent zu entwickeln, gegen Technologien zu kämpfen, die etwa Menschenrechte verletzen, und aktiv nach „diskriminierender Verzerrung“ in ihren Systemen zu suchen.

Unten, in der Eingangshalle des Merantix-Campus, montieren vier Handwerker eine Wandverkleidung. Irgendwas, so wirkt es, passt nicht. Und die Männer tun, was sie in solchen Fällen eben tun: Sie improvisieren. Das scheint zu funktionieren. Ob ein Roboter das auch könnte? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis KI unsere Welt so ziemlich auf den Kopf gestellt haben wird. Aber es muss ja nicht gleich die ganze sein.

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