Digital Health – Die Zukunft ist jetzt

Digital Health – Die Zukunft ist jetzt


Pulskontrolle per Smartwatch, Diagnose mithilfe künstlicher Intelligenz, Krankheitsmonitoring per Smartphone – wir leben längst in der Zukunft. Unsere Gesundheit ist digital und wird immer digitaler. Doch wohin geht der Weg?

Pulskontrolle per Smartwatch, Diagnose mithilfe künstlicher Intelligenz, Krankheitsmonitoring per Smartphone – wir leben längst in der Zukunft. Unsere Gesundheit ist digital und wird immer digitaler. Doch wohin geht der Weg?

Text: Iunia Mihu, Foto: Andrey Suslov / Shutterstock

Treibende Kraft für die digitale Disruption der Gesundheitsbranche sind zweifellos die vielen etablierten Unternehmen und die Start-ups, die innovative Anwendungen und Lösungen in den Bereichen Diagnose, Therapie oder Kommunikation für Endverbraucher, aber auch für Pflegeheime und Kliniken bieten. Viele der Akteure sitzen in der Region Berlin-Brandenburg. Vor allem die Digital- Health-Stadt Berlin ist ein Magnet für Start-ups. Was die Region so attraktiv macht, ist das enge Zusammenspiel von Innovation, Forschung und Politik – und dem konnte selbst die Pandemie nichts anhaben. Auch Corina Golze, Leiterin des Private Banking-Teams der Weberbank, erlebt in ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Heilberuflern, dass sich niedergelassene Ärztinnen und Ärzte auf den digitalen Weg gemacht haben.

Doch spulen wir erst ein bisschen zurück. Nachdem zunächst jahrelang die Digitalisierung im Gesundheitswesen stagnierte, brachte das Digitale-Versorgung-Gesetz, Ende 2019 in Kraft getreten, den erhofften Schub. Neben einer sukzessiven Vernetzung und Digitalisierung der Gesundheitssysteme können Ärzte ihren Patienten erstmals sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) verschreiben. Wer gesetzlich krankenversichert ist, hat also Anspruch auf eine Versorgung mit Apps oder onlinebasierten Programmen, die etwa bei Diabetes, Bluthochdruck, Tinnitus, aber auch Depression unterstützend zum Einsatz kommen. Der Markt ist vielversprechend, denn in Deutschland sind rund 73 Millionen Menschen über eine gesetzliche Krankenversicherung versorgt.

Wer es mit einer digitalen Anwendung in das DiGA-Verzeichnis schaffen will, muss aber erst ein Verfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bestehen. Geprüft werden unter anderem der Nutzen für die Patienten, die Funktionsfähigkeit, und auch der Datenschutz wird sorgfältig unter die Lupe genommen. Erst wenn eine DiGA als anerkanntes Medizinprodukt im Verzeichnis eingetragen ist, können Ärzte sie verordnen. Aktuell sind etwa 20 Apps im Verzeichnis, weitere werden folgen. Doch möchten Ärzte ihren Patienten überhaupt digitale Gesundheitsanwendungen empfehlen? Und wie werden Start-ups in der Ärzteschaft wahrgenommen? Mit diesen spannenden Fragen hat sich die Stiftung Gesundheit in einer Studie zum Thema „Digitale Gesundheitsanwendungen und innovative Start-ups im Gesundheitswesen“ befasst. Die Untersuchung war 2020 Teil der Studienreihe „Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit“, die jährlich durchgeführt wird. Rund 17 300 ambulant tätige Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten wurden im Zeitraum vom 14. bis 25. Oktober 2020 befragt – zu diesem Zeitpunkt waren schon die ersten fünf Apps im DiGA-Verzeichnis gelistet.

„Beeindruckt hat mich die Diskrepanz zwischen der Bereitschaft der Ärzte, mit fachlichem Rat und medizinischer Expertise mitzuwirken – etwa durch fachliche Beratung sowie monetäre Beteiligungen –, und der geringen Umsetzung in der Praxis. Da liegt also noch ganz viel Potenzial brach“, sagt Dr. Peter Müller, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Gesundheit. Nur vier Prozent der Mediziner teilten in der Befragung mit, dass sie bereits in Gesprächen mit Start-ups seien. „Das ist sehr wenig, obgleich die fachliche Beratung bei digitalen Gesundheitsanwendungen zwingend notwendig ist. Dabei haben rund 80 Prozent der Ärzte angegeben, dass sie grundsätzlich dazu bereit wären – eine krasse Diskrepanz“, sagt Müller.

Die Coronakrise hat bestimmte Entwicklungen im Bereich der digitalen Gesundheit beschleunigt – das Ansehen digitaler Tools ist gestiegen, ihre Bedeutung wurde allen auf teilweise dramatische Weise vor Augen geführt. So zum Beispiel in der Altenpflege. Jasper Böckel, Gründer und Geschäftsführer der Myositis GmbH, erzählt: „Als sich Pflegeeinrichtungen vor der Außenwelt verschließen mussten, war die Isolation für die Heimbewohner sehr stark spürbar. Auf einmal war die Kommunikation mit den Angehörigen kaum mehr möglich. Die Pflegebranche musste sich plötzlich mit diesem Thema befassen – und wurde so auf unsere App aufmerksam.“ Das Berliner Start-up bietet eine Anwendung für die Kommunikation in der Altenpflege an. Die App myo bindet Angehörige ein, damit diese aktiver am Alltag der Bewohner teilnehmen können – und zwar auch dann, wenn die Enkel auf einem anderen Kontinent leben. Die digitale Kommunikation habe inzwischen in der Altenpflege einen ganz neuen Stellenwert erlangt, sagt Böckel. „Die Menschen haben verstanden, dass Flurfunk und Telefon nicht ausreichen – insofern treffen wir heute auf deutlich offenere Ohren als vorher.“

Andere Start-ups haben die Pandemie für einen eigenen Wandel genutzt – wie Kenkou. Das junge Unternehmen mit Sitz in Berlin ist mit einer App zur Stressreduktion gestartet. Der Kenkou Stress Guide kann via Smartphone den individuellen Stresspegel messen. Auf Basis der eigenen Stresswerte erhält der App-Nutzer persönlich zugeschnittene Übungen und Tipps für ein achtsames Verhalten gegen sich selbst und Entspannung im Alltag. Die App ist ein zertifiziertes Medizinprodukt – und obwohl sie sich am Markt etabliert hat, stellte sich Geschäftsführer Matthias Puls im Pandemiejahr die Frage: Wollen wir diesen Weg so weitergehen? Die Antwort lautete Nein. Puls erklärt: „Es gibt im Bereich mentale Gesundheit zu viele digitale Anwendungen, und ich glaube nicht, dass sich sehr viele durchsetzen werden. Was wir aber gesehen haben: Den meisten Apps fehlen personenbezogene Daten. Das heißt, Patient A bekommt das gleiche Angebot wie Patient B. Das ist aber nicht Sinn der Sache. Denn die Zukunft geht in Richtung personalisierte Medizin und Prävention.“ Inzwischen verkauft das Unternehmen seine Technologie anderen App-Entwicklern. Die wiederum erhalten so individuelle und messbare Werte ihrer Nutzer und können in der Folge personalisierte Angebote und Programme anbieten. Auch helfen die Vitaldaten, um Nutzern und Nutzerinnen niedrigschwellig aufzuzeigen, wie ihr Körper auf mentale oder physische Belastung reagiert. Dies lässt sich beispielsweise über Werte aus dem Biomarker „Herzraten-Variabilität“ – als Reflexion des autonomen Nervensystems – aufzeigen.

Doch nicht alle Entwicklungen laufen gleich schnell ab – während innovative Start-ups die Medizin der Zukunft mitgestalten, müssen infrastrukturelle, politische, aber auch bürokratische Hürden überwunden werden. „Das hat unter anderem mit bestimmten Regularien zu tun, die nur sehr langsam abgebaut werden“, sagt Peter Müller von der Stiftung Gesundheit und nennt als Beispiel die Videosprechstunde. „Dahinter steckt eine lange Geschichte. Jegliche Fernberatung ist in den Sechzigerjahren verboten worden, allerdings aus völlig anderen Motiven: Es sollten konkreter ärztlicher Rat und Therapieempfehlungen in der Boulevardpresse unterbunden werden.“ Mit dem sogenannten Fernbehandlungsverbot wollte man also verhindern, dass Mediziner in der Yellowpress ärztlichen Rat geben, ohne die Patienten, also die Leser und Leserinnen, wirklich gesehen zu haben. „Daraus hat man das Fernbehandlungsverbot abgeleitet – das ist eben sehr lange aufrechterhalten geblieben. Vor Corona waren die Ärztekammern noch sehr zögerlich und haben die Bestimmungen um die Videosprechstunde schrittweise gelockert – mit der Pandemie kam aber der Boom.“ Eine Befragung der Stiftung Gesundheit unter Ärzten zu dem Thema zeigt: Obwohl sie die digitale Sprechstundenform schon seit April 2017 abrechnen können, haben die meisten Befragten (94,1 Prozent) erst im Laufe des Jahres 2020 die digitale Sprechstunde eingerichtet. Formal war die Änderung übrigens einfach, denn das Fernbehandlungsverbot war nicht im Gesetz, sondern in der Ärzte-Berufsordnung verankert.

Inzwischen ist die Videosprechstunde ein Standardtool, vor allem in der sprechenden Medizin. Dabei wurde noch vor nicht allzu langer Zeit auf Ärztekongressen heftig darüber gestritten, erinnert sich Müller: „Die Verweigerer sprachen so, als ob plötzlich jede normale Arzt-Patienten-Behandlung abgeschaltet und nur noch über den Fernseher laufen sollte. Aber jetzt tritt das Beste ein, was passieren kann: eine Normalisierung – Videosprechstunde als ein zusätzliches Instrument, mit Chancen, Richtlinien und Grenzen.“ Die Pandemie habe die Videosprechstunde zwar massiv beschleunigt, diese werde jedoch mit dem Auslaufen der Pandemie eher wieder etwas weniger genutzt werden, vermutet der Experte. Auch bei der Online-Terminbuchung ist noch reichlich Luft nach oben. „Der praktische Anwendernutzen liegt zwar auf der Hand, aber nicht einmal zehn Prozent der Ärzte in der ambulanten Versorgung bieten die Online-Terminbuchung an. Fakt ist, dass die Ärzte in Deutschland bei der digitalen Terminbuchung meilenweit anderen europäischen Ländern hinterherhinken“, sagt Peter Müller. Ein Schritt vor, zwei zurück also? Nein, das nicht. Denn Veränderungen brauchen nun einmal Zeit. Auch in einem Digital-Health-Vorzeigeland wie Estland passierte der digitale Wandel im Gesundheitsbereich nicht über Nacht. „Der Bereich Digital Health ist ein Kontinuum“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Gesundheit, „es ist nicht so, als ob es einmal einen Urknall gab und Digital Health dadurch entstanden ist. Es ist eine Entwicklung, die es schon sehr lange gibt und die sich fortlaufend verändert und voranschreitet.“

Diesen Beitrag lesen Sie auch in unserem Magazin diskurs Nr. 35. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

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