Diverse Gesellschaften – ein Plus für die Wirtschaft

Vielfalt entsteht da, wo Verschiedenheit gelebt werden darf. Das kann herausfordernd sein – und zu neuen Lösungen führen. Davon profitiert nicht nur die Gesellschaft, auch Unternehmen erkennen verstärkt die Vorteile von Diversität.

Vielfalt ist kein Trend, Vielfalt ist Alltag. Und wird es bleiben – so viel ist sicher. Umso wichtiger ist es, sich darauf einzustellen, dass Diversität immer zwei Seiten hat, und entsprechend zu handeln. Ein Beispiel: In Deutschland leben 22,3 Mil­lio­nen Menschen mit Migrationshintergrund. Das heißt, mehr als 27 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einen Elternteil anderer Nationa­lität oder wurden selbst nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren. Damit ist Deutschland längst ein Einwanderungsland. Schaut man aber auf Führungskräfte mit Migrationshintergrund, liegt ihr Anteil noch immer bei weniger als zehn Prozent. Bei Start-up-Gründerinnen und -gründern sind es 22 Prozent. Bei der Geschlechtergerechtigkeit sieht es ähnlich aus. Zwar hatte Deutschland bereits eine Bundeskanzlerin und kann aktuell ein weiblich geführtes Außenministerium vorweisen, und doch steht das Land im EU-Ranking auf Platz 20, wenn es um Führungspositionen geht: Der Frauenanteil beträgt hier klägliche 29 Prozent.

Eigentlich gibt es bereits seit 2006 für all diese Themen eine gesetzliche Grundlage: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz regelt den Schutz vor Diskriminierung, etwa aus rassistischen Gründen oder wegen einer Behinderung. Dazu gehören auch Rechte und Pflichten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Das Thema Diversität hat längst die Unternehmen erreicht – und zwar in allen sechs Diversity-Dimensionen: Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, physische Gesundheit, ethnische Zugehörigkeit sowie Religion und Weltanschauung.

Die Unternehmen haben erkannt: Vielfalt kann sehr bereichernd sein, eine enorm posi­tive Kraft entfalten und steht in der Außenwirkung für Weltoffenheit und Weitblick. So erstaunt es nicht, dass bis heute mehr als 4700 Organisationen mit insgesamt rund 14,9 Millionen Beschäftigten die „Charta der Vielfalt“ unterzeichnet haben, eine Selbstverpflichtung zu Diversity-Management mit dem Grundgedanken, dass es dem Erfolg ­eines Unternehmens dient, die Vielfalt der Mitarbeitenden wertzuschätzen.

Nicht ganz uneigennützig, denn hinter dem Gedanken steht auch die Erkenntnis, dass Diversity-Management gerade in Zeiten von demografischem Wandel und Fachkräftemangel Vorteile hat: höhere Attraktivität bei jungen Zielgruppen, engere Bindung von Beschäftigten, bessere Außenwirkung, Erschließung neuer Märkte und die Erfahrung, dass Teams, die eine große Vielfalt aufweisen, häufig mehr Motivation haben und kreativere, innovativere Lösungen finden als ­homogene Gruppen. Das geht vom seh­behinderten Programmierer, der barrierefreie Apps entwickelt, über die ältere Arbeit­nehmerin, die ihre Erfahrung an die Jungen weitergibt, bis zum hoch motivierten Geflüchteten, der seine Chance im Unternehmen nutzt.

Zu den inzwischen 30 DAX-Konzernen, die die Charta der Vielfalt unterzeichnet haben, zählt die Deutsche Bahn, die mit ihrer Initiative „#einziganders“ ein Bekenntnis zur Vielfalt setzt: Die bundesweit mehr als 200 000, weltweit 320 000 Mitarbeitenden stammen aus rund 100 Kulturkreisen, decken vier Generationen ab und gehören unterschied­lichen Glaubensrichtungen an. Rund 14 Prozent der Bahn-Belegschaft sind unter 30 Jahre, 42 Prozent über 50 Jahre alt. Allerdings sind aktuell gerade einmal 23 Prozent der Mitarbeitenden und lediglich 25 Prozent der Führungskräfte Frauen. „Wir sind durch unsere Vielfalt und Größe ein Spiegelbild der Gesellschaft. Themen, die uns im Unternehmen umtreiben, sind zumeist auch Themen, die gesellschaftlich diskutiert werden“, erklärt Christine ­Epler, Konzernbeauftragte für Diversity.

Egal ob Frauen in Führungspositionen, das Thema Gendern oder die Aktivitäten der zahlreichen internen Netzwerke – der Deutschen Bahn sei es „ein Anliegen, Haltung zu zeigen, in Prozesse hineinzukommen und das Thema Diversität immer mitzudenken. Wir reagieren auf gesellschaftliche Anforderungen, denn es sind Faktoren, nach denen sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre potenziellen Arbeitgeber aussuchen“. Letzteres spiegele sich in aktuellen Zahlen wider, so sei die Anzahl der Bewerbungen bei den Auszubildenden um mehr als 15 Prozent auf 115 000 gestiegen. Damit ist die Deutsche Bahn AG nur ein Beispiel von vielen. Die Robert Bosch GmbH setzt mit flexiblen und mobilen Arbeitszeitmodellen und betriebsnahen Kitas auf ein Höchstmaß an Familienfreundlichkeit. Der Großhandelsunternehmenskonzern Metro setzt sich mit Coachings, Konferenzen und einem Mentoring-Programm für eine Förderung von Frauen in Führungspositionen ein. Und bei der Mercedes-Benz Group AG räumen gleich mehrere Initiativen, darunter eine virtuelle Ausstellung, mit Vorurteilen zwischen Jung und Alt auf.

Ein wertschätzendes und anerkennendes Arbeitsumfeld, das alle Beteiligten ins Boot holt und Differenzen anerkennt, erfüllt eben nicht nur gesetzliche Vorschriften, sondern stärkt auch das Image und generiert Wettbewerbsvorteile beim Rekrutieren und Binden von Beschäftigten. Laut einer internationalen Studie der Unternehmensberatung McKinsey könnten rund 50 Prozent des drohenden Fachkräftemangels durch personelle Vielfalt in den Unternehmen abgefedert werden. Dieselbe Studie bescheinigt Unternehmen mit einem hohen Grad an Diversität eine größere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein.

Das gilt besonders beim Frauenanteil im Topmanagement: Wer darauf setzt, hat den McKinsey-Untersuchungen zufolge eine um 21 Prozent größere Wahrscheinlichkeit auf überdurchschnitt­liche Gewinne. Besonders hoch sei dieser ­Effekt in Deutschland, wo sich die Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschäftserfolgs sogar verdopple.

Zu diesem Erfolg trägt vieles bei: mit einer internationalen Belegschaft neue Märkte zu erschließen, Erfahrungen aus gemischten Altersstrukturen zu nutzen und Teams durch die Sensibilisierung für unbewusste Denkmuster zu stärken. Diese reichen vom geschlechtsspezifischen Lohnunterschied über Altersdiskriminierung bis zum unbewussten Festhalten am Vertrauten. Die „Unconscious Bias“ verschwindet nicht von selbst aus unserem Kopf. Aber sich gegen sie zu wehren und immer mehr umzudenken, das sei unerlässlich, betont Sven Lehmann, der als Queer-Beauftragter für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt steht: „Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür können Unternehmen einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag leisten.“

Mit Blick auf Queerfeindlichkeit, zu wenige Frauen in Führungspositionen oder die geringen Karrierechancen für Menschen mit Migra­tionshintergrund: Liegt das nur an den schwer umzupolenden unbewussten Denkmustern, oder steckt mehr dahinter? Der Sozio­loge Aladin El-Mafaalani, Professor für Erziehung und Bildung in der Migrations­gesellschaft an der Universität Osnabrück, vergleicht die Situation mit einem Tisch, an dem früher eher die alten weißen Männer ­saßen und inzwischen eine illustre Tischgesellschaft Platz genommen hat. Nicht zu vergessen all jene am Boden, die noch immer nicht mit am Tisch sitzen dürfen. „Auf dem Boden, aber auch am Tisch ist die Stimmung schlecht – und zwar: weil sich so vieles verbessert hat. Die Teilhabe von denen, die früher noch nicht teilhaben konnten, bedeutet für die, die früher privilegiert waren, zu teilen. Und wer das nicht freiwillig macht, hat ein Pro­blem.“ Früher hätten diese vermeintlichen Normalitäten einen großen Schwerpunkt des Zusammenhalts gebildet, dabei seien sie in Wirklichkeit Unterdrückungsverhältnisse und Zwänge gewesen. Wem das nicht bewusst sei, wer sich eingeschränkt oder gar bedroht fühle, der wider­setze sich, wähle vielleicht populistische Parteien. Überraschen dürfe das nicht. „Diversity in einer offenen Gesellschaft ist das, was die Schwerkraft in der Physik ist: etwas, das selbstverständlich ist, das anstrengend ist und gleichzeitig notwendig. Der gleiche Konfliktauslöser kann zu Krieg führen oder zu krassesten sozialen Innovationen, es kommt also darauf an, wie man mit den Konflikten umgeht.“

Und natürlich mit den Unterschieden. Denn: Dass diverse Teams innovativer, umsatzstärker, ja einfach erfolgreicher sind, hat sich längst herumgesprochen. Statt nur auf berufliche Qualifikationen zu schauen, setzen deshalb immer mehr Unternehmen auf stärken­orientierte Teams, deren Mitglieder neben ihrem beruflichen Background auch über Soft Skills wie Empathie, Flexibilität, Offenheit oder interkulturelle Kompetenz verfügen. Ein Zusammenspiel, das sich auszahlt.

Text: Tanja Breukelchen
Foto: Daniel Ramirez Perez
Datum: Oktober 2022

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