Ein Markt im Rausch

Ein Markt im Rausch


Cannabis als Heilmittel gewinnt auch in Deutschland immer mehr Bedeutung – sorgsam beobachtet von den Behörden. Inspiriert von Erfolgsgeschichten aus Kanada, hoffen Investoren und Start-ups auf einen explodierenden Markt und wetten auf eine weitergehende Liberalisierung.

Cannabis als Heilmittel gewinnt auch in Deutschland immer mehr Bedeutung – sorgsam beobachtet von den Behörden. Inspiriert von Erfolgsgeschichten aus Kanada, hoffen Investoren und Start-ups auf einen explodierenden Markt und wetten auf eine weitergehende Liberalisierung.

Text: Steffen Ermisch und Manuel Heckel, Foto: Shutterstock

Die Ernte ist in Sicht. Ende 2020 könnte das erste legal in Deutschland angebaute Cannabis eingefahren werden. In diesem Frühjahr erteilte das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte die ersten Anbaugenehmigungen über 7,2 Tonnen. Die Pflanzen sollen für medizinische Zwecke genutzt werden. In einem Vaporizer verdampft oder zu einem Extrakt für Mundsprays, Kapseln und Öl weiterverarbeitet, kann Cannabis Patienten mit schweren und chronischen Erkrankungen helfen. Vor allem die schmerzlindernde Wirkung ist unumstritten. Im März 2017 legalisierte Deutschland den Einsatz von Cannabisarzneimitteln als Therapiealternative. Bereits ab 2011 wurden Einzelgenehmigungen erteilt, etwa für Patienten, die an multipler Sklerose leiden. Die Zahl der Anwender ist zwar noch vergleichsweise gering – steigt aber rasch. So verdreifachte sich von 2017 auf 2018 die Anzahl der Rezepte. Konkrete Angaben zu den Nutzern gibt es nicht. Die Marktforscher von Prohibition Partners schätzen jedoch, dass bereits bis zu 40 000 Patienten eine Genehmigung für den Erwerb von Cannabis besitzen.

Um die Heilpflanze formiert sich daher ein rasch wachsender Markt, den vor allem Start-ups bedienen. „Deutschland hat das größte Marktpotenzial in Europa“, urteilen die Marktforscher. Grundlage für diesen Optimismus sind die ersten Legalisierungsschritte. Außerdem setzen die Analysten auf die steigende Zahl der Nutzer und die generell hohen Gesundheitsausgaben. Wie schnell das Wachstumstempo tatsächlich sein wird, ist strittig. Prohibition Partners geht davon aus, dass die Umsätze in Europa in knapp zehn Jahren auf 123 Milliarden Euro ansteigen könnten, Marktforscher von BDS Analytics rechnen hingegen bis 2022 europaweit mit 28 Milliarden Euro. Die Zahlen gehen deshalb so stark auseinander, weil die Prognose sehr schwierig ist. Zum einen dürften die Preise für legales Cannabis deutlich sinken, zum anderen könnte nach weiteren Gesetzesänderungen der Privatverbrauch als Marktsegment dazukommen. Viele Start-ups und Investoren, die sich jetzt mit Begeisterung auf das Thema stürzen, wetten auf eine weitergehende Legalisierung des Cannabiskonsums.

Enthusiastisch blicken sie dabei über den Atlantik: Kanada ließ Cannabis bereits 2001 als Arzneimittel zu, im vergangenen Herbst wurde es für den Freizeitgebrauch legalisiert. Über die Jahre konnte sich die Branche formen. Einer der globalen Player für medizinisches Cannabis hat seinen Hauptsitz in Kanada. Über Niederlassungen und Vertriebsbüros ist das Unternehmen in mittlerweile 24 Ländern aktiv. Hierzulande markierte das „Cannabis als Medizin“-Gesetz vor zwei Jahren den Startschuss. In den vergangenen Monaten machten zahlreiche Start-ups mit millionenschweren Finanzierungsrunden auf sich aufmerksam. Die Cannamedical Pharma aus Köln beispielsweise sammelte Anfang des Jahres 15 Millionen Euro von einem US-Investor ein. Die Farmako GmbH mit Sitz in Frankfurt, hinter der der Berliner Seriengründer Sebastian Diemer steckt, holte sich im Herbst einen Millionenbetrag ab. In Berlin machen Gründer ebenfalls Dampf. Das Start-up Pedanios, das bereits 2015 eine Großhandelserlaubnis für Cannabisprodukte erhielt, wurde im vorigen Jahr von einem kanadischen Pharmaziegroßhandel übernommen. Und Anfang Mai formierte sich mit der Sanity Group GmbH ein weiterer Angreifer in der Hauptstadt. „Wir machen das in Berlin, weil es mit Firmen wie Bayer oder Sanofi ein spannender Standort im medizinischen Cluster ist“, sagt Sanity-Mitgründer Finn Age Hänsel, zuvor Vorstandschef beim Umzugs-Start-up Movinga. In sein neues Unternehmen investierte ein bunter Mix von Geldgebern: Neben den anerkannten deutschen Risikokapitalinvestoren Atlantic Labs und Holtzbrinck Ventures gehört Casa Verde Capital zu den Gesellschaftern. Hinter dem Fonds steckt der amerikanische Rapper Snoop Dogg.

Neu ist die Erkenntnis der Heilkraft von Cannabis nicht. Anhand von archäologischen Funden lässt sich nachweisen, dass in Indien und China bereits vor Tausenden Jahren Cannabis für medizinische Zwecke genutzt wurde. Im Mittelalter erlebte die Pflanze in Europa ihren Durchbruch – bis ins 20. Jahrhundert war sie Bestandteil vieler Medikamente. Nach dem Ersten Weltkrieg drehte sich die Wahrnehmung: Angesichts der zunehmenden Verbreitung als Rauschmittel wurde Cannabis 1925 aus wirtschaftspolitischen Gründen in das „Internationale Abkommen über Betäubungsmittel“ aufgenommen. Deutschland setzte die Vorgaben vier Jahre später im „Opiumgesetz“ um. Länder wie die USA stellten in den Folgejahren sogar jegliche Nutzung der Pflanze unter Strafe. Das ändert sich nun langsam. Außer in Kanada ist medizinisches Cannabis seit Anfang der Nullerjahre in Israel und in den Niederlanden zugelassen – viele Länder zogen seither nach. In den USA etwa haben inzwischen zehn Bundesstaaten den Konsum für Freizeitzwecke legalisiert, viele weitere zumindest für die medizinische Verwendung. Die EU stellte in einem Bericht Ende 2018 fest, dass die meisten Mitgliedstaaten medizinische Präparate auf Cannabisbasis bereits legalisiert hätten oder das planten.

In Deutschland wurde Cannabis auf Rezept im vergangenen Jahr bereits 95 000-mal bei den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet, so Zahlen der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Viele Apotheken klagen über Lieferengpässe. Entsprechend lohnend ist das Geschäft der Lieferanten: Die Farmako GmbH beispielsweise begann Anfang März mit der Auslieferung von Cannabis und plant bis Ende des Jahres mit monatlichen Umsätzen im Millionenbereich. Aktuell konzentrieren sich die deutschen Start-ups darauf, Cannabis zu importieren, zu verarbeiten und dann an Apotheken zu verkaufen. Weil die weltweite Nachfrage steigt, müssen die Firmen lange nach Lieferanten suchen. Langsam kommen neue Märkte dazu. Farmako schloss im Frühjahr einen Liefervertrag über 50 Tonnen mit einer polnischen Firma ab, Israel erlaubt künftig ebenfalls den Export. „Schon das Thema Import für den medizinischen Gebrauch ist bedeutend genug, um eine große Firma aufzubauen“, sagt Sanity-Gründer Hänsel. Mittelfristig könnte zudem der innerdeutsche Anbau für Nachschub sorgen. Die ersten Zulassungen des zuständigen Bundesamts wurden bereits vergeben.

Doch die Visionen vieler Branchenteilnehmer gehen weiter. An der Universität Hohenheim startete im Frühjahr ein mit Bundesmitteln gefördertes Forschungsprojekt. Gemeinsam mit kanadischen Wissenschaftlern soll es gelingen, Cannabis mit einem minimalen Gehalt des berauschenden Wirkstoffs THC zu erschließen. Die Züchtungen könnten in der Medizin, aber auch für Lebensmittel und im Bereich Körperpflege wertvoll sein, sagt die Forschungsleiterin Simone Graeff-Hönninger: „Dass in der Cannabispflanze viel Potenzial steckt, hat der Handel mittlerweile erkannt.“ Der Wirkstoff Cannabidiol (CBD) kann etwa den Konsumenten entspannen, Entzündungen hemmen oder gegen Unwohlsein helfen. Shampoos, Tees oder Kaugummis mit Extrakten der Cannabispflanze sind daher immer häufiger im Supermarkt zu finden. Rechtlich ist das noch eine Grauzone. Für wenige Wochen standen im Frühjahr sogenannte CBD-Öle in den Regalen der Drogerieketten dm und Rossmann. Zwar wirkt CBD nicht berauschend, ein zu hoher THC-Gehalt aber würde einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz darstellen. Weil in einigen Bundesländern Behörden gegen Anbieter solcher Produkte strikt vorgingen, nahmen die Ketten die Produkte wieder aus den Läden.

Farmakos Pläne hingegen gehen in eine andere Richtung. Die GmbH ist ein forschendes Pharmaunternehmen und hat ein Patent angemeldet, um die Wirkstoffe biosynthetisch herzustellen. Chemiker von Farmako bauen die Cannabinoide im Labor nach – und können so je nach Anwendungszweck bestimmte Wirkungen abschwächen oder verstärken. „Wir wollen den Markt für das nächste Level von Cannabisprodukten erschaffen“, sagt Gründer Sebastian Diemer. Riskant sind Investments in die junge Branche ohnehin. Selbst die Marktführer verbrennen aktuell noch viel Geld, Neugründungen und Fusionen sind an der Tagesordnung. Zugleich kann die Ankündigung kleinster Gesetzesänderungen große Folgen auf die Entwicklung haben. Ein Kursrausch ohne Risiken und Nebenwirkungen ist daher aktuell nicht garantiert.

Diesen Beitrag lesen Sie auch in unserem Magazin diskurs Nr. 29. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

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