Longevity – das Geschäft mit dem langen Leben

Longevity – das Geschäft mit dem langen Leben


Studien über Hundertjährige sollten klären, warum einige Menschen so viel älter werden als andere. Inzwischen deuten neue biomedizinische Ergebnisse aber darauf hin: Das Altern könnte schon bald Geschichte sein.

Studien über Hundertjährige sollten klären, warum einige Menschen so viel älter werden als andere. Inzwischen deuten neue biomedizinische Ergebnisse aber darauf hin: Das Altern könnte schon bald Geschichte sein.

Text: Paul Fenski, Foto: wavebreakmedia / Shutterstock

1875 kommt die Südfranzösin Jeanne Calment zur Welt. Berühmtheit erlangt sie allerdings erst im ausgehenden Jahrtausend, und zwar aufgrund ihres hohen Alters. Als sie im August 1997 stirbt, ist sie 122 Jahre, 5 Monate und 15 Tage alt. Das macht sie bis heute zum ältesten Menschen, der bekannt wurde. Dabei lag die Lebenserwartung für Menschen, die zu der Zeit Jeanne Calments geboren wurden, deutlich unter dem heutigen Niveau. Warum werden einige Menschen so außergewöhnlich alt? So viel älter als die allermeisten anderen? Darüber sollten Studien Aufschluss geben, für die Daten über „Centenarians“ (Hundertjährige) und „Supercentenarians“ (110-Jährige) ermittelt und analysiert wurden. Drei Hauptfaktoren, die ein langes Leben ermöglichen, stechen dabei klar hervor: ein gesunder Lebensstil und eine sinnstiftende Tätigkeit innerhalb einer sozialen Gemeinschaft sowie genetische Faktoren. Ihnen kommt besondere Bedeutung zu: Etwa 30 Prozent der Variabilität der Lebenserwartung können Untersuchungen zufolge durch genetische Dispositionen erklärt werden. Unser Erbgut bestimmt das Risiko, dass wir im Alter an einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall, an Diabetes oder Krebs – einer sogenannten altersassoziierten Krankheit – sterben. Fazit: Für den einen ist das Risiko von Geburt an also höher als für die andere.

Für jeden Menschen gilt gleichwohl, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Erkrankungen mit steigendem Alter zunimmt. Sie werden von molekularen und zellulären Schäden begünstigt, die sich mit den Jahren anhäufen. Biogerontologen fragen sich, wie sich solche Schäden vermeiden lassen. Die Biogerontologie, die Erforschung des biologischen Alterns, ist ein komplexes Fachgebiet, weil hier vieles zusammenwirkt. Mehr als 300 Theorien des Alterns sind bekannt, jeder Eingriff in den Körper birgt ein gewisses Gefahrenpotenzial: Kettenreaktionen im hochkomplexen biochemischen Gefüge können ausgelöst werden – mit unabsehbaren Folgen. Vielleicht gibt es aber auch einen guten Grund dafür, dass wir altern, dass wir ein bestimmtes Alter nicht überschreiten können. Und vielleicht ist diese Endlichkeit evolutionär bedingt: Kurze Lebensspannen ermöglichen eine bessere Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen. Ob sich diese biologische Grenze substanziell verschieben lässt, ist Gegenstand kontroverser Debatten innerhalb der Biogerontologie. Das eine Lager glaubt nicht daran und fokussiert sich darauf, die Begleiterscheinungen des Alterns zu beseitigen. Das andere identifiziert das Altern selbst als Krankheit, die bekämpft werden müsse.

Das erstgenannte Lager, die „Healthspanner“, sieht sich empirisch bestätigt: In Deutschland hat sich die Lebenserwartung seit 1900 verdoppelt – und trotzdem sind die ältesten Menschen nicht älter geworden. Deshalb konzentrieren sich die Healthspanner darauf, die allgemeine Lebenserwartung näher an das bislang nur von einzelnen Individuen erreichbare Alter anzupassen. Möglichst vielen Menschen soll ein langes und gesundes Leben ermöglicht werden, unbeeinträchtigt von altersbedingten Krankheiten. Gelänge dies, würde der Begriff „Longevity“ im Optimalfall seine Zweideutigkeit verlieren. Derzeit wird er im angloamerikanischen Sprachraum sowohl für die statistische Lebenserwartung einer Bevölkerung verwendet als auch für diejenigen Individuen, die besonders lange leben. Nicht nur in der Fachwissenschaft stoßen solche Überlegungen auf großes Interesse, auch die Geschäftswelt engagiert sich. Forschende in öffentlichen Einrichtungen sind häufig auf Drittmittel angewiesen, die in aufwendigen Bewerbungsprozessen erworben werden. Privatunternehmen sind da wesentlich flexibler.

In Deutschland untersucht das Pharmaunternehmen Apogenix bereits seit 2005 Proteinwirkstoffe, die Krebs- und Viruserkrankungen bekämpfen. So zeigte sich in einer Phase-II-Studie, dass der Wirkstoff APG 101 die Lebensdauer der Patienten verlängern kann. Curevac, das aufgrund der Entwicklung eines Coronaimpfstoffs bekannt geworden ist, arbeitet an zahlreichen lebensverlängernden Therapien, die sich in drei Bereiche aufteilen lassen: prophylaktische Impfstoffe, Krebsimmuntherapien und proteinbasierte Therapien. Investiert wurden bislang 1,4 Milliarden Dollar. Zudem gibt es andere aussichtsreiche Unternehmen wie Cadior aus Hannover, das nicht codierende RNA hemmen und so Herzfehler behandeln will. Oder Cellbricks, das sozusagen einen 3-D-Drucker für biologisches Gewebe entworfen hat. Aus den Wörtern juvenil, also jugendlich, und Seneszenz, was verkürzt so viel wie Alterung bedeutet, setzt sich der Name der Londoner Firma Juvenescence zusammen. Der Mitbegründer Gregory Bailey beschreibt die zentralen Säulen des Unternehmens so: Regenerationskräfte des Körpers stimulieren, das Auftreten von Krankheiten durch frühe präventive Eingriffe verhindern und diese Therapie über Nahrungsergänzungsmittel auf der ganzen Welt verfügbar machen. Die Bioinformatiker von Nuritas in Irland setzen ebenfalls auf Nahrungsergänzungsmittel, allerdings mithilfe von Big Data. Durch umfangreiche Auswertungen sollen Peptide identifiziert werden, die unter anderem den Alterungsprozess entschleunigen.

In den USA ist der Longevity-Fokus besonders ausgeprägt. Das Biotechnologieunternehmen Calico, 2013 von Google gegründet, erforscht Methoden, um das Auftreten altersassoziierter Krankheiten zu vermeiden. Dabei fehlt es dem Silicon-Valley-Spross nicht am branchenüblichen Bohei. Auf der Website heißt es: „Wir greifen das Altern an“. Tatsächlich deuten die Calico-Publikationen auf eine Vielzahl verschiedener Forschungsfelder hin. Es dürfte zudem von Vorteil sein, dass die amerikanische Muttergesellschaft Alphabet Zugriff auf unfassbare Datenmengen hat – dank des inkorporierten Genanalyse-Unternehmens 23andMe auch auf die menschlicher Genome. Der große Wurf blieb bislang jedoch aus. Die im Bundesstaat Nevada angesiedelte Firma Sierra Sciences hat sich auf einen Bereich konzentriert: auf die Telomere, die Endteile unserer Chromosomen. Diese Telomere will Sierra verlängern und erhofft sich dadurch, das Altern aufzuhalten. Dazu muss man wissen, dass die Chromosomen bei jeder Zellteilung kürzer werden. Da die Telomere keine Erbinformationen enthalten, hat ihr Wegfall zunächst keine Konsequenzen. Sind die Telomere jedoch aufgebraucht, stoppt die Zellteilung. Die Biogerontologie sieht darin eine entscheidende Ursache für das Altern und seine Begleiterscheinungen.

Einen Überraschungserfolg am Menschen hat der kalifornische Biomediziner Gregory Fahy, medizinischer Direktor des Biotech-Start-ups Intervene Immune, im vergangenen Jahr eingefahren. Eigentliches Ziel seines Versuchs war es, die Teilnehmer über eine Reaktivierung der Thymusdrüse gegen altersassoziierte Krankheiten zu schützen. Das auch Wachstumsdrüse genannte Organ ist Teil des lymphatischen Systems. Bei Heranwachsenden ist die Thymusdrüse für die Ausbildung des Immunsystems mitverantwortlich. Allerdings bildet sie sich nach Erreichen der Geschlechtsreife zurück. Fahy konnte in seinem Experiment diese Entwicklung umkehren; offenbar wuchs bei den neun männlichen Probanden Thymusgewebe. Besonders aufsehenerregend waren die Versuchsergebnisse, weil die Probanden sich nicht nur fitter und gesünder fühlten, sondern von Verjüngungserscheinungen berichteten: Graue Haare wurden wieder braun, die Glatzenbildung ging zurück, und die Muskelmasse nahm zu. Ein Test zur Bestimmung des biologischen Alters ergab, dass die Teilnehmer im Schnitt um 18 Monate „jünger“ geworden waren. Es bleibt abzuwarten, ob diese Ergebnisse auch groß angelegten Phase-III-Studien standhalten.

Andreas Michaelsen, Chefarzt am Immanuel-Krankenhaus Berlin und Professor für klinische Naturheilkunde an der Charité, verfolgt diese Entwicklungen mit Interesse. Gleichwohl ist er der Meinung, dass viele Erkenntnisse von Koryphäen der Altersforschung eigentlich die Wirksamkeit traditioneller Therapien belegen. Im Gespräch mit diskurs sagt er: „Anhand von Top-Science kann man heute verstehen, dass die traditionellen Therapien der Naturheilkunde hochwirksame Maßnahmen für das Anti-Ageing sind.“ Er glaubt sogar, dass gesunde Ernährung, viel Bewegung, kalorische Restriktion und Kältereize ein Leben jenseits der 130 Jahre ermöglichen. Eigentliches Ziel solle jedoch weniger sein, dass wir alle uralt werden, „sondern lieber 90 und bis dahin gesund“. Michalsen sieht die Digitalisierung dabei als einen Weg, zurück zur Natur zu finden. Das wirkt auf den ersten Blick paradox, doch digitale Gesundheitsangebote könnten naturheilkundlichen Verfahren den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft ebnen.

Der Schlüssel zu einem langen und gesunden Leben liegt also vielleicht näher als gedacht. Es scheint, als stünde uns in der Altersforschung eine Revolution bevor. Ob sie nun im Heilfasten, einer Wunderpille oder der Gentherapie besteht, bleibt vorerst offen.

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