Benedikt Bösel

Tausche Anzug gegen Flanellhemd

Benedikt Bösel hat den Alltag als Banker eingetauscht gegen ein Leben als Landwirt. Dabei machte er den Familienbetrieb zum Vorreiter für regenerative Landwirtschaft – dem Brandenburger Sand zum Trotz.

Wald gibt es hier, viel Wald. Ebenso Platz, Felder, Erde. Anders als in der Bankenmetropole Frankfurt am Main oder in Düsseldorf, wo Benedikt Bösel seinen Einstieg ins Berufsleben nahm. Flanell statt Anzug, Kappe statt Krawatte – der 37-Jährige hat vor sechs Jahren seinen Alltag komplett auf den Kopf gestellt. Doch nach erschütterten Eltern und Aussteigerkonnotationen sucht man hier in Alt Madlitz vergebens: Bösel ist ein-, nicht ausgestiegen. In den Familienbetrieb, in die Landwirtschaft, in sein Leben. Was pathetisch klingen mag, war eine ganz existenzielle, im wahrsten Sinne erdverbundene Entscheidung.

Die Geschichte von Bösels Familie ist in der dritten Generation mit Alt Madlitz, dem kleinen Dorf in Ostbrandenburg, verbunden. „Mein Stiefgroßvater väterlicherseits war ein Finck von Finckenstein. Deren Verbindungen mit Madlitz gehen gute 300 Jahre zurück“, erklärt Bösel. Nach 1945 erfuhren Gut und Land den für diese Hälfte der Republik typischen Weg von Enteignung und LPG-Betrieb. Bis 1990 wurde hier eine Milchviehanlage betrieben, und als die Familie in den Folgejahren Stück für Stück das Land zurückkaufte, sattelte sie auf Ackerbau um. Das Bewusstsein für ökologische Landwirtschaft brachte nicht erst Benedikt Bösel mit: Schon seit 2004 steht im Fokus der Familie, Trinkwasser, Boden und Klima zu schützen. Zu jener Zeit war der heutige Geschäftsführer nach seiner Internatszeit in England und dem Studium der Wirtschaftsmathematik in Durham als Investmentbanker bei Sal. Oppenheim in Frankfurt am Main. Die Finanzkrise 2008/09 war auch für Bösel einschneidend und ließ ihn realisieren, dass er sich mehr Erfüllung wünschte, als seine Arbeit im Bankwesen ihm bot. Zudem war immer klar, dass er das Gut der Familie eines Tages übernehmen würde. Also machte er einen Master in Agrarökonomie an der Humboldt-Universität Berlin, um anschließend unter anderem als Berater für Investitionen in Agrar-Start-ups tätig zu sein.

Es war dann tatsächlich der Jakobsweg, der bei ihm von einem „Ich bin dann mal weg“ zu einem „Ich bin wieder da“-Moment führte. Bei einer spontanen Wanderung auf dem Pilgerpfad Anfang 2016 spürte er, dass es ihn nach  Alt Madlitz zog. Er wollte zur Familie, und er wollte hier Verantwortung übernehmen. Es erwartete ihn ein ökologischer Ackerbau- und Forstbetrieb, dessen Erlöse in erster Linie aus dem Verkauf von Holz und Getreide stammten. 1100 Hektar Acker- und Grünland und 2000 Hektar Forst waren es, die die Familie inzwischen aus der Milchvieh-LPG gemacht hatte, auf einer Fläche, neunmal so groß wie Kreuzberg. Außerhalb des Einflusses der Familie stand und steht jedoch die Lage ihres Landes: Ostbrandenburg, der Landkreis Oder-Spree, Gemeinde Briesen, viel näher an Polen als an Berlin. So schön die Region ist, mit ihren Seen, Alleen, Feldern und Wäldern, so sehr spürt sie inzwischen den Klimawandel. „Die Region Berlin-Brandenburg gehört zu den am meisten vom Klimawandel verwundbaren Regionen in Deutschland. Durch die Ausmaße der Veränderungen wird sich das schon trockene und warme Klima räumlich ausweiten und weiter verschärfen“, stellt das brandenburgische Ministerium für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Landwirtschaft fest. Das heißt im Klartext: Die Sommer werden nicht nur heißer, sondern auch trockener. Im März dieses Jahres fielen sogar nur drei Liter Niederschlag pro Quadratmeter. Das ist knapp ein Siebtel des Bundesdurchschnitts im gleichen Zeitraum. Die ohnehin eher sandige Erde in dieser Region macht das nicht ertragreicher, sie kann noch schlechter Feuchtigkeit speichern. Wo keine Pflanze wächst, ist der ¬Boden ungeschützt. Im trockenen Boden sterben wichtige Bakterien, Pilze und andere Organismen. Der Boden ist tot, die Erträge gehen zurück, die Landwirte leiden unter diesen Entwicklungen. Doch nicht nur ökonomisch ist das der direkte Weg ins Scheitern, auch ökologisch bedeutet dieser Weg eine Sackgasse.

Bösel beschäftigt sich viel mit dem, was sein Land sein kann. Er erkennt die Endlichkeit der bisher etablierten Bewirtschaftungsformen und steigt ein in die Ideen der regenerativen Landwirtschaft. In den USA ist das System längst mehr als eine Nische, große Player wie Danone oder General Mills sind schon auf den Zug aufgesprungen. „Natürlich macht sich das auch gut für deren Marke“, so Bösel. „Aber wenn es der Sache hilft, dann ist es nicht verkehrt.“ Spätestens seit dem erfolgreichen, von Woody Harrelson eingesprochenen Dokumentarfilm „Kiss the Ground“ von 2020 kann sich sogar Otto Normalverbraucher niedrigschwellig mit dem Thema beschäftigen. Die Idee dahinter scheint einfach und beinahe wie eine Rückkehr zu alten Bewirtschaftungsmethoden: darauf zu hören, was der Boden braucht, anstatt ihm um jeden Preis den Willen des Menschen aufzuzwingen; die Pflanzung so vorzunehmen, dass verschiedene Ebenen des Bodens durchwurzelt sind, denn das bedeutet Feuchtigkeit und gibt Organismen neuen Lebensraum. Zudem soll der Boden nie unbedeckt sein, damit er vor Austrocknung geschützt ist. Auch den inzwischen so häufig als Klimakiller gescholtenen Kühen kommt eine wichtige Rolle zu: Nach dem Prinzip von Bisonherden ziehen sie übers Land. Bis zu viermal täglich wird ihnen ein neuer Abschnitt Weidefläche zugewiesen. Die Blattmasse bleibt bestehen, was die Fotosynthese fördert. Der Mist wird als Dung in den Boden getrampelt. So ziehen die Tiere Stück für Stück über die Flächen, kein Fleckchen Erde wird totgegrast, denn mit diesem System kommen sie erst nach etwa zehn Wochen zur nächsten Runde auf das Anfangsstück zurück. Der Clou: Diese Form der Landnutzung bedeutet langfristig nicht nur bessere Erträge, sie trägt auch zu einer gesunden CO²-Bilanz bei.  

Bösel will es versuchen, denn er hat das Gefühl, er könne nichts verlieren. „Wir haben diesen Weg begonnen, nicht etwa weil wir wissen, wie es geht, sondern weil wir nicht wissen, wie es weitergeht.“ Er holt sich Mitstreiter ins Boot und baut den elterlichen Betrieb 2019 zu „Gut & Bösel“ um. Mit dem Verkauf seiner Aktien, seines Autos und mit einem Darlehen von Ecosia finanziert er die ersten Bäume und Kühe. 2020 sichert der deutsche Lebensmittelpionier followfood Gut & Bösel eine längerfristige Unterstützung zu. Mit seiner 2019 ins Leben gerufenen „Bodenretter-Initiative“ ist es followfood möglich, Gut & Bösel insgesamt 250 000 Euro über drei Jahre zuzusichern. Damit soll regenerative Landwirtschaft gefördert werden, in diesem Fall Gut & Bösel als „Vorreiterhof für innovative Konzepte im Agrarbereich“. Auch den Fertilize the Future Fonds des belgischen Unternehmens Ecover kann Gut & Bösel gewinnen mit dem Konzept, seinen Kiefernmonokulturwald in verschiedene Abschnitte zu unterteilen, um dort dreierlei Modelle auszuprobieren und wissenschaftlich zu begleiten. Das Ziel: der Natur hier wieder ihren Raum zu geben, die Erde fruchtbarer zu machen und für die Gegend neue Kulturen anzupflanzen. Wissenschaft¬liche Unterstützung hat Bösel durch die Gründung einer Stiftung und die Partnerschaft mit hochrangigen Universitäten und Instituten, unter anderem der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie sowie der Humboldt-Universität zu Berlin. Bösel möchte nicht nur den eigenen Betrieb künftig im Rahmen seiner Ideen profitabel halten, sondern die Ergebnisse seiner Arbeit auch anderen Landwirtinnen und Landwirten „open source“ zur Verfügung stellen. Eine Messstation sammelt unter anderem Daten zu Niederschlag und Bodenfeuchtigkeit. Mit Drohnen werden Daten über den Agroforst gesammelt. Auf einer Fläche von 50 Hektar stehen hier 50 000 Bäume, und zwei Millionen Baumsamen sind gesetzt.

Vom ersten Baum im April 2019 und der ersten Kuh im Mai desselben Jahres ist Gut & Bösel zu einem großen Reallabor gewachsen. 30 feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind an Bord, 30 Praktikanten packen mit an – aus Überzeugung, aus Interesse, aus Lust an der neuen Art von Landwirtschaft. Wer mag, wird auf dem Gut untergebracht, mittags wird gemeinsam gegessen. Bösel versteht diese Arbeit als die Basis des Seins – ohne Landwirtschaft keine Nahrung. Umso wichtiger ist es ihm, dafür zu begeistern. „Natürlich bin ich auch Gefangener meines Systems in Ostbrandenburg und habe immer Sorge, wie ich die Leute bezahle“, so der ehemalige Banker. Dass einer, der sich so bedingungslos seiner Sache und seiner Verantwortung verschreibt, ernst wirkt, ist wenig überraschend. Doch der Gesichtsausdruck Bösels, wenn seine kleine Tochter plötzlich auftaucht, gibt ein Gefühl dafür, was ihn antreibt. Er strahlt die Zuversicht desjenigen aus, der einen Lichtblick sieht und ihn festzuhalten versteht. Bösel agiert, ohne es darauf angelegt zu haben, in der Tradition seiner brandenburgischen Vorfahren, wie Günter de Bruyn sie beschreibt: „Neben der Tätigkeit als Offizier oder Beamter kam für den Adligen nur noch die des Landwirts infrage. Doch auch hier erforderte die Modernisierung (…) eine bessere wirtschaftliche Bildung, sodass nicht zufällig jene Adligen, die sich kulturell engagierten, auch die besten Erfolge mit den neuen Landbaumethoden hatten und oft schon vor den preußischen Reformen erkannten, dass die alte fronbäuerliche Gutsverfassung produktionshemmend war.“ Da passt es, dass Benedikt Bösel ein Buch in Angriff genommen hat, das im kommenden Frühjahr unter dem Titel „Rebellen der Erde. Wie wir den Boden retten – und damit uns selbst!“ erscheinen soll. Auch ohne die direkten Blutsbande in die märkische Vergangenheit ist Bösel in die gummistiefelförmigen Fußstapfen getreten. Gut, dass sie inzwischen in zunehmend satter Erde ihre Spuren ¬hinterlassen, anstatt in der Streusandbüchse verweht zu werden.

Text: Anne Rudelt
Foto: Paula Winkler
Datum: Oktober 2022

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