Was kommt nach Beton?

Die Baubranche hat ein Klimaproblem: Alleine die Betonproduktion verursacht mehr CO²-Emissionen als der Flugverkehr. Zunehmend suchen Planer deswegen nach alternativen Baustoffen – und entdecken dabei altbekannte Naturmaterialien neu.

Wo bis Ende 2020 Flugzeuge gestartet und gelandet sind, türmen sich aktuell Erdhaufen auf. Meter für Meter wird im Osten des ehemaligen Flughafenareals Tegel der Boden umgepflügt. Kampfmittelräumdienste fanden tonnenweise Granaten, Brandbomben und Munitionsschrott auf einer Fläche, so groß wie 28 Fußballfelder, teilte die Tegel Projekt GmbH im Sommer mit. Sobald die Lasten aus der Vergangenheit entfernt sind, soll hier an der Zukunft gebaut werden: 5000 Wohnungen sind im Kurt-Schumacher-Quartier geplant. Das neue Viertel soll einen Gegenpol zu manch beengtem Kiez der Hauptstadt bilden – und Maßstäbe in Sachen Ökologie setzen.

Geplant sind großzügige Grünanlagen mit Verdunstungsflächen für Regenwasser und autofreie Wege. Private Pkw kommen in Quartiersgaragen unter, die als „Mobility Hubs“ gleichzeitig Sharingfahrzeuge beherbergen. Klimafreundlich sollen auch die Gebäude selbst werden – dank eines hohen Holzanteils: Gegenüber konventioneller Bauweise würden 80 Prozent weniger Emissionen verursacht, wirbt die Projektgesellschaft. Das Kurt-Schumacher-Quartier werde „das größte Holzbauviertel weltweit“ und das Flughafenareal „ein internationaler Modellstandort für nachhaltiges Bauen“.

Das Großprojekt zeugt von einem Umdenken in der Bauwirtschaft. Heute nehmen Planerinnen und Planer bei Neubauten die Ökobilanz ins Visier und wollen mit Naturmaterialien konventionelle Baustoffe ablösen. Besonders im Fokus stehen Beton und Stahl – zwei Materia­lien, die viel Energie bei der Herstellung brauchen und den Klimawandel befeuern. Die Produktion des Betongrundstoffs Zement ist laut UNO für fünf bis sechs Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Zum Vergleich: Der Flugverkehr hat laut der Branchenorganisation Air Transport Action Group einen Anteil von 2,1 Prozent der durch Menschen verursachten CO²-Emissionen. Auf die Herstellung konventioneller Baumaterialien insgesamt sind laut der Denkfabrik World Resources Institute sogar zehn Prozent der Treib­hausgasemissionen zurückzuführen.

Lange hat man das auch in Deutschland in Kauf genommen – schließlich sollte der dringend benötigte Zubau neuer Wohnungen nicht gebremst werden. Nun aber pocht die Politik darauf, dass auch der Gebäudesektor seinen Anteil am ökologischen Umbau der Wirtschaft leistet. Man dürfe Klimaschutz und Wohnungsneubau nicht länger gegeneinander ausspielen, mahnte Bundesbauministerin Klara Geywitz Ende Mai im Bundestag. Beides müsse miteinander verbunden werden, „mit nachhaltigen Baustoffen, mit modernen Bauformen“.

Ideen dafür gibt es viele – Architekten und Architektinnen, Forscherinnen und Forscher experimentieren mit 3-D-Druck, robotergefertigten Fassadenmodulen und neuen Baustoffkombinationen. Doch auch jahrtausendealte Bauweisen werden wiederentdeckt. Beispiel Lehm: Verwendet bereits im alten Ägypten, ist das Material in unseren Breiten in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, findet Jan Schreiber, Mit­geschäftsführer des auf alternative ­Bauweisen spezialisierten Berliner Architekturbüros ZRS: „Lehm hat ein riesiges Potenzial, vor allem im Innenausbau.“ Das Material sorge nicht nur für ein angenehmes Raumklima, sondern sei auch regional sehr gut verfügbar.

Dass Lehm und der moderne Wohnungsbau zusammenpassen, will ZRS gemeinsam mit Partnern nun in einem öffentlich geförderten und ­wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekt in Berlin-Alt-Britz unter Beweis stellen. Bis Ende 2024 soll dort ein Mehrfamilienhaus in Lehm-Holz- und ein weiteres in Ziegel-Holz-Bauweise entstehen. Bauherrin ist die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land. Ressourceneffizient sollen die Gebäude nicht nur während des Baus sein. Das Ziel sei es, „über einfaches und robustes Bauen mit klimasteuernden Baustoffen den Einsatz von Gebäudetechnik zu reduzieren und auf Klima- und Lüftungstechnik zu verzichten“, heißt es in der Projektbeschreibung.

Unterdessen beschäftigt sich die Forschung auch mit ganz neuen Ansätzen für die Gebäudekonstruktion. So will ein Team der Universität Stuttgart und der Uni Freiburg Flachsfasern zum Rohstoff für tragende Strukturen machen. Dazu wickeln sie Fasern mithilfe von Robotern in mehreren Schichten um einen Rahmen, der hinterher entfernt wird. Die so erstellten Teile sind ähnlich stabil wie solche aus Glasfasern, die als Baustoff bereits zum Einsatz kommen. Dass das Verfahren praxis­tauglich ist, haben die Wissenschaftlerinnen bewiesen: Seit 2021 steht im botanischen Garten der Uni Freiburg ein Pavillon aus Flachsfasern.

Eine weitere Einsatzmöglichkeit für Pflanzenfasern treiben Forstwissenschaftler der Universität Göttingen voran: Sie haben ein Verfahren entwickelt, mit dem aus Hanf, Flachs und Popcorngranulat Wandpaneele hergestellt werden können. Die Elemente sollen den bisher üblichen Gipskartonplatten bei Dämmung, Brandschutz und Trag­fähigkeit in nichts nachstehen. Gleichzeitig sollen sie aber leichter zu verarbeiten, recyclingfähig und vor allem klimaneutral sein. Denn: Hanf, Flachs und Mais binden durch Fotosynthese mehr CO² aus der Atmosphäre, als durch die Herstellung der Trockenbauelemente verursacht wird. Ein Start-up soll nun die Vermarktung vorantreiben.

In der Praxis längst angekommen ist ein anderer nachwachsender Rohstoff: Holz. Der Anteil der Gebäude, bei denen es das Hauptbau­material ist, steigt seit Jahren – zuletzt lag die Quote laut dem Statistischen Bundesamt bei 21 Prozent. Auch in mehrgeschossigen Häusern mit großen Nutzflächen spielt Holz eine immer größere Rolle. Ein ­imposantes Beispiel in Berlin findet sich am Südkreuz: Dort hat Ende August der Energieversorger Vattenfall seine neue Deutschlandzentrale mit 1600 Beschäftigten bezogen. Gebaut wurde das achtstöckige Bürohaus überwiegend aus Holz, auch wenn manche Elemente aus Beton sind.

„Beim Holzbau hat sich in den vergangenen Jahren unglaublich viel getan“, sagt Architekt Schreiber. Ein wichtiger Wegbereiter in Berlin sei die Änderung der Bauordnung im Jahr 2018 gewesen. Bis dahin haben Brandschutzvorschriften die Verwendung des Baustoffs in höheren Wohnungs- und Gewerbebauten erschwert. Aktuell wird der Holzbau jedoch vor allem von den hohen Preisen gebremst. Die Gesobau warnte im April bereits vor einer Kostenexplosion im geplanten Schumacher-Quartier. Wie das der Nachrichtensender rbb24 berichtete, geht das kommunale Wohnungsunternehmen davon aus, dass die ambitionierte Holzbauweise pro Quadratmeter 900 Euro mehr kostet als eine konventionelle Bauweise.

In der Gesamkostenbetrachtung könnten sich die nachhaltigen Baustoffe dennoch auszahlen, betont Experte Schreiber. „Man kann schneller bauen und gewinnt durch geringere Wandstärken Nutzfläche.“ Ein weiterer Faktor: Holz, Lehm oder auch Naturfasern lassen sich besser wiederverwenden, wenn das Gebäude einmal anders genutzt oder rückgebaut wird. In die Rechnung privater Immobilien­entwickler, die auf schnelle Profite aus sind, fließe das aber nicht ein, kritisiert Schreiber. Weitsichtiger seien beispielsweise kommunale Wohnungsbaugesellschaften und Bestandshalter.

Auch die Verwaltung des Landes Berlin will den Wandel in der Bauwirtschaft: Ende 2021 ist eine neue Verwaltungsvorschrift in Kraft getreten, die konventionelle Baustoffe aus öffentlichen Neubauten weitgehend verbannt. Stattdessen müssen grundsätzlich nachwachsende Rohstoffe oder Recyclingmaterialien verwendet werden. Die sogenannte Kreislaufwirtschaft sollen auch neue Regeln beim Abriss alter Gebäude fördern: Der Bauschutt darf nicht mehr einfach auf einer ­Deponie landen. Stattdessen sollen die eingesetzten Materialien wiederaufbereitet werden

Sogar Beton wird durch das Recycling zumindest etwas umweltverträglicher. Denn es ist weniger Zement nötig, wenn aus dem Bauschutt Frischbeton hergestellt wird. Noch besser wird die Ökobilanz mit einem Verfahren des Schweizer Start-ups Neustark, das in Berlin nun bei einem Bauvorhaben in Tempelhof-Schöneberg erprobt wird: Das Start-up leitet konzentriertes CO² über zerkleinerten Betonabbruch. Das Klimagas wird dabei in den Poren des Baustoffs gebunden. Das beschleunigt einen natürlichen Mineralisierungsprozess, der normalerweise Tausende von Jahren dauert. Die Klimabilanz verbessert sich damit aktuell um immerhin bis zu 20 Prozent. Die große Vision des Start-ups ist es, irgendwann sogar mehr Klimagase zu binden, als bei der Herstellung des Recyclingbetons anfällt. Statt der Atmosphäre einzuheizen, könnten Betonneubauten dann zur CO²-Senke werden.

Text: Steffen Ermisch
Foto: © ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart, Photo by Rob Faulkner
Datum: Oktober 2022

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