Wofür das alles?

Wofür das alles?


Wer ein Unternehmen führt, strebt wirtschaftlichen Erfolg an. Doch immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmern ist der Sinn ihres Handelns genauso wichtig. Stichwort Purpose: In der deutschen Start-up-Szene ist der Trend bereits angekommen.

Wer ein Unternehmen führt, strebt wirtschaftlichen Erfolg an. Doch immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmern ist der Sinn ihres Handelns genauso wichtig. Stichwort Purpose: In der deutschen Start-up-Szene ist der Trend bereits angekommen.

Text: Pauline Schinkels, Foto: Photobank.kiev.ua / Shutterstock

Sie habe lange nachgedacht, „aber Geld erfüllt mich nicht“. Vor sieben Jahren gründete Anna Yona gemeinsam mit ihrem Mann das „Minimalschuh“-Unternehmen Wildling. Los ging es damals mit einer Kickstarter-Kampagne. 15000 Euro erhofften sie sich, 75000 Euro kamen letztlich zusammen. Vergangenes Jahr wurden sie für ihre Schuhe, die vor Verletzungen und Witterung schützen und zugleich ein natürliches Laufen ermöglichen sollen, mit dem Deutschen Gründerpreis ausgezeichnet. Dem Instagram-Kanal des Engelskirchener Unternehmens folgen inzwischen mehr als 120000 Menschen. Mit diesem Erfolg hätten sie nicht gerechnet. „Aber damit kam auch die Frage auf, wo wir eigentlich mit Wildling hinwollen.“ Mit einem Unternehmen habe man schließlich einen großen Hebel für Veränderung. „Für uns stand deshalb ziemlich schnell fest: Wir wollen etwas Sinnvolles bewirken: mit unseren Produkten, in unserem Unternehmen und für die Gesellschaft.“

Damit trifft Yona einen Nerv. Toptalente fragten nach der Bedeutung ihrer Arbeit, konstatierte vor zwei Jahren der Bundesverband der Personalmanager, Unternehmen müssten sich verstärkt darum kümmern, den Zweck ihres Wirtschaftens herauszustellen. „Eine primäre Orientierung an Profit und Shareholder-Value allein erscheint nicht mehr legitim“, liest man in der Purpose-Studie der Unternehmensberatung Kienbaum. Aber ist das nicht eher Schein als Sein? Und wie soll das in Unternehmen funktionieren? In der Kienbaum-Studie konnten von mehr als 1300 Befragten nur 42 Prozent den Purpose ihres Unternehmens benennen. 30 Prozent der Befragten gaben an, der Arbeitgeber vertreibe Produkte oder Dienstleistungen, die nicht im Einklang mit dem Purpose stünden. Und von den Unternehmen, die Sinnziele definiert haben, misst nur ein Drittel wirklich nach, ergab eine Onlineumfrage der dpa-Tochter News aktuell und der PR-Agentur Faktenkontor im vergangenen Jahr.

Es geht um Identifikation und Motivation

Aber warum zögern Unternehmen, warum zaudern Kolleginnen und Kollegen bei der Sinnsuche? Darüber hat Maximilian Strecker promoviert. Derzeit beobachtet er in Unternehmen allerdings mehr Sinnkrise als Sinnfindung. Die Pandemie bietet wenig Ausgleich zum Berufsalltag. Stattdessen nutzen viele Angestellte die Zeit zu Hause, um über ihre berufliche Situation zu grübeln. Wer sich dann entscheidet zu kündigen, der muss für einen anderen Job nicht einmal umziehen: Remote Work macht es möglich. Genau das soll Purpose eigentlich verhindern. Schließlich geht es um Identifikation und Motivation. Doch wie lässt sich Sinn in Unternehmen überhaupt erfahren? Die persönlichen Gründe dafür, dass wir den Arbeitsplatz als dröge oder aber als fesselnd erleben, liegen weit auseinander. Einige wollen die Karriereleiter erklimmen, um sich Statussymbole leisten zu können. Andere, die eher intrinsisch motiviert sind, suchen Möglichkeiten, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Und für manche ist die Versorgung der Familie die Antriebsfeder. „Das ist nicht abzuwerten, im Gegenteil“, sagt Strecker, „Arbeit als Selbstzweck kann auch sinnstiftend sein.“ Generell gelte: Wer nicht sieht, was er beiträgt, oder das Gefühl hat, er müsse sich im Büro verbiegen, der kann lange nach dem persönlichen Sinn suchen.

„Mikromanagement ist für die Sinnsuche tödlich“

„Wo ist die Arbeit monoton, und können wir sie abwechslungsreicher gestalten?“ Auf diese Fragen hin durchleuchtet Wildling seine Unternehmensstrukturen und setzt auf Vertrauensarbeit und flache Hierarchien. So empfiehlt es auch Strecker. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wollen das Gefühl haben, dass sie Kompetenzen erwerben, mit denen sie Herausforderungen meistern. Dafür brauchen sie Freiräume. „Mikromanagement, also das Durchkontrollieren bis ins kleinste Detail, ist für die Sinnsuche tödlich.“ Mehr Coach als Chef, das sei heute gefragt. „Du arbeitest für mich. Aber ich arbeite auch für dich“, das sollten Führungskräfte ihren Kolleginnen und Kollegen signalisieren. Nur wenige Unternehmen trauen sich heute an die gemeinschaftliche Dimension von Sinn heran. Während Google es allen freistelle, die Familie zu Firmenfesten oder in die Kantine mitzunehmen, werde hierzulande schnell der Rotstift bei Mitarbeiterversammlungen oder Gemeinschaftsräumen angesetzt, sagt Strecker. „Das ist die Bankrotterklärung der Unternehmenskultur.“ In der Praxis ist das nicht immer ganz so einfach. Für viele sei es neu, ohne Hierarchien und vorgegebene Prozesse zu arbeiten. „Das lernt man ja nicht in der Schule“, sagt Yona. Als wachsendes Unternehmen strukturiere Wildling dauerhaft um, es herrsche ständig Unruhe. „Da muss man auch ehrlich zu sich sein, ob das was für einen ist.“ Wildling verstehe sich zudem als Remote-Unternehmen. Aber wer von zu Hause aus arbeitet, hat den Wert des eigenen Beitrags nicht direkt vor Augen. Der lasse sich aber auch im Kleinen erleben, beschwichtigt Berater Strecker. „Wenn ich meinen Kollegen oder der Nachbarabteilung helfen kann, sich zu entwickeln, dann erlebe ich das auch als sinnstiftend.“

Die Frage, an die sich nur wenige herantrauen

Warum und wofür gibt es uns? Welche Veränderung erreichen wir bei unseren Zielgruppen? Machen wir die Welt sozialer, grüner, effizienter? Diese gesellschaftliche Qualität bezeichnet der Berater als Noble Purpose. An ihren postulierten Wirkungen müssen sich Unternehmen auch messen lassen. Jannic Horne, Gründer der Berliner Beratung ImpactNexus, die sich auf Wirkungsmessungen spezialisiert hat, warnt davor, sie sich schönzurechnen. „Die Frage nach dem Impact darf nicht mit einer CO2-Kompensation abgehakt werden, die mal eben bezahlt wird.“ Er erlebe oft, dass sich das Thema Impact auf Überlegungen nach der richtigen Zusammenarbeit oder auf leicht messbare Äquivalente wie den Kohlendioxidausstoß begrenze. Mehr Vielfalt, mehr Autonomie in der Arbeit, das sei ja alles begrüßenswert. Aber Unternehmen müssten auch an die unangenehmen Punkte ran, fordert Horne. „Und die liegen in Lieferketten.“

Kritische Rohstoffe könnten ersetzt und in Innovationen investiert werden, in der Bauindustrie etwa in weniger umweltschädlichen Zement oder den Umstieg auf Holz. Vor solchen grundlegenden Veränderungen schreckten viele Unternehmen allerdings zurück. Und natürlich lasse sich eine schlechte Wirkung hinter einem eindrucksvoll klingenden Purpose verstecken. Aber Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter merkten schnell, wenn Anspruch und Realität auseinanderdrifteten. Schließlich gleichen sie permanent die persönlichen Werte und die Unternehmensentwicklung ab und kündigen im schlimmsten Fall. Die soziale, ökologische und ökonomische Wirkung wird aber nicht nur von der eigenen Belegschaft aufmerksam verfolgt. Das Thema wird auch unter sogenannten Impact-Investoren und -Investorinnen, die gezielt nach Unternehmen mit einer hohen Wirkung fahnden, immer gefragter. Laut einer Studie der Bundesinitiative Impact Investing von 2020 wurde das hiesige Marktvolumen zuletzt auf 2,9 Milliarden Euro geschätzt.

Wirkung statt Profit

Was bewirken wir eigentlich? Dieser Frage geht Paul Kupfer schon länger nach. Der Sozialunternehmer hat vor zehn Jahren Soulbottles gegründet. Gestartet ist das Berliner Unternehmen mit bedruckten Glasflaschen. Über eine Million Flaschen hat es bisher verkauft. Für Soulbottles arbeiten mehr als 60 Angestellte. Inzwischen werden auch Glashalme, Brotdosen und Stahlflaschen vermarktet. Pro verkaufter Flasche spendet Soulbottles an die Trinkwasserprojekte von Viva con Agua. „Wir verkaufen Plastikvermeidung“, so fasst Kupfer den Geschäftszweck zusammen. Vor drei Jahren hat das Unternehmen seinen ersten Wirkungsbericht veröffentlicht. In dem 80-seitigen Bericht, der eine sogenannte Gemeinwohlbilanz aufschlüsselt, heißt es: „Gewinne bleiben im Unternehmen und werden in den Purpose, also den Zweck des Unternehmens, reinvestiert – Wirkungsmaximierung statt Profitmaximierung.“

Dafür werden die Auswirkungen von Bügelverschluss und Dichtungsring der Flasche bis hin zur Stahlproduktion in China analysiert. Das Glas etwa hat einen hohen Recyclinganteil, was den ökologischen Fußabdruck verringert. „Trotzdem ist die Produktion sehr energieintensiv“, sagt Kupfer selbstkritisch. Sie schauen aber nicht nur auf die Lieferketten, sondern, ähnlich wie Wildling, auch auf interne Strukturen. Soulbottles ist Gründungsmitglied der Berliner Stiftung für Verantwortungseigentum. Das heißt nicht nur, dass die Gewinne im Unternehmen bleiben, sondern auch, dass das Unternehmen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehört, die bei wichtigen Entscheidungen mitreden können. 97,6 Prozent der Stimmrechte liegen bei ihnen. Die Zusammenarbeit läuft nach dem Prinzip der Holokratie. Vorgesetzte gibt es nicht mehr. Die Mitarbeiter organisieren sich selbst. Auch das soll zu mehr Sinnerfüllung beitragen.

„Dieses Unternehmen aufzubauen, das empfinde ich als sinnvoll“

Aber geht das im Berufsalltag immer so auf? „Wir alle streben nach Erfüllung“, sagt Strecker, „aber immerzu 100 Prozent Sinn gibt es nicht.“ Damit man wenigstens bei 70 oder 80 Prozent landet, sind faire Arbeitsbedingungen übrigens Grundvoraussetzung. Das führt zwar nicht zwangsläufig zu mehr Zufriedenheit, verhindert aber immerhin Unzufriedenheit. Existenziell sei auch Sicherheit. Schließlich ist die berufliche Sinnsuche für jemanden, den Zukunftsängste plagen, ziemlich realitätsfern. Aber braucht es denn unbedingt mehr Sinn im Berufsalltag? Schließlich sind Millionen Menschen in ihrer Freizeit ehrenamtlich tätig, helfen in der Hausaufgabenbetreuung oder trainieren die Sportmannschaft. Natürlich könne auch das eine Strategie für ein sinnerfülltes Leben sein, sagt Strecker. „Aber dabei sollte man nicht vergessen: Einen Großteil unserer Lebenszeit verbringen wir nun mal auf der Arbeit.“

Die wendet auch Anna Yona für Wildling auf. Und wie erlebt die Unternehmerin Sinnstiftung persönlich? Sie habe anfangs mit ihrem Mann schon darüber nachgedacht, das Unternehmen vielleicht irgendwann zu verkaufen. Aber jetzt wollen beide Wildling selbst führen, aus eigenen finanziellen Mitteln wachsen und Schritt für Schritt die Lieferkette nachhaltig verbessern. Ziel sei nicht, eine negative Wirkung zu verhindern, sondern eine positive zu schaffen, sagt Yona. Und diese Möglichkeit gebe ihr kein Geld, das sie durch einen Verkauf erzielen könnte. Deshalb ist der Plan, vielleicht irgendwann einmal zu verkaufen, inzwischen vom Tisch. „Dieses Unternehmen aufzubauen, das empfinde ich als sinnvoll.“

Diesen Beitrag lesen Sie auch in unserem Magazin diskurs Nr. 36. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

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