Janina Mütze: Einfach alles anders machen

Janina Mütze: Einfach alles anders machen


Als 24-Jährige gründete Janina Mütze mit drei Männern das Online- Marktforschungsunternehmen Civey. Medienportale, Konzerne und Bundesbehörden entschieden sich für die neuartigen Umfragen – und die Chefin wurde zum Vorbild vieler Frauen.

Als 24-Jährige gründete Janina Mütze mit drei Männern das Online- Marktforschungsunternehmen Civey. Medienportale, Konzerne und Bundesbehörden entschieden sich für die neuartigen Umfragen – und die Chefin wurde zum Vorbild vieler Frauen.

Text: Cay Dobberke, Foto: Paula Winkler

Von telefonischen Umfragen war Janina Mütze stets genervt. Wenn unerbetene Anrufer ihr Fragen zu verschiedensten Themen stellen wollten, „habe ich nie mitgemacht“, sagt sie. Dann wurde sie mit 24 Jahren selbst zur Mitgründerin eines Meinungsforschungsinstituts. Doch Civey funktioniert ganz anders. Das von ihr und drei Kollegen ins Leben gerufene Berliner Unternehmen macht seine repräsentativen Umfragen ausschließlich online. Sie werden auf verschiedensten Internetportalen eingebettet, zu denen die Websites vieler Medien gehören. 2016, rund ein Jahr nach der Gründung, war der Tagesspiegel der erste große Kunde aus dem Pressebereich; wenig später folgte Spiegel Online. Seitdem geht es steil bergauf. Zur langen Reihe der Kunden gehören heute die Zeit und die Welt, Focus Online, die Funke-Mediengruppe sowie der Bayerische und der Mitteldeutsche Rundfunk. Der Autokonzern VW ließ den Erfolg seiner Werbekampagne für das neue Elektroauto ID.3 messen. Auch andere Großunternehmen wie die Telekom, Vodafone, E.ON oder Tchibo setzen auf Civey Umfragen.

Hinzu kommen das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und andere öffentliche Institutionen. Der Umsatz liege im „einstelligen Millionenbereich“, sagt Janina Mütze. Jahrelang habe er sich verdreifacht und sich sogar noch 2020 verdoppelt, als die Coronapandemie viele Branchen ausbremste. Nicht zuletzt durch viele Aufträge der Bundesregierung in der Krisenzeit „sind wir stark gewachsen“. Die Erhebungen werden auf mehr als 25 000 Websites ausgespielt, die Unterseiten der Portale mitgezählt. „Wir sind das größte deutsche Panel und erreichen Gruppen, an die die klassische Marktforschung nicht herankommt“, sagt Janina Mütze. Civey steht für „Citizen Survey“ (Bürgerumfrage) und bietet Internetnutzern an, anonym und unkompliziert mitzumachen. Teilnehmer müssen beim Erstkontakt mit den Befragungen ihr Alter, ihr Geschlecht und die Postleitzahl angeben. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass ihnen nach der Beantwortung sofort der aktuelle Zwischenstand der jeweiligen Umfrage angezeigt wird. Wer bereit ist, etwas mehr über sich preiszugeben, kann sich auch direkt bei Civey registrieren. Dort soll unter anderem die Berufsgruppe genannt werden, was zusätzliche zielgerichtete Umfragen per E-Mail ermöglicht. Die Fragen der Kunden werden von einem wissenschaftlich geschulten Team formuliert. Außerdem pflegt das Unternehmen einen Themenpool, aus dem sich Geschäftspartner bedienen können.

Nach wie vor besucht Janina Mütze viele Kunden persönlich oder konferiert mit ihnen während der Coronakrise digital. Dass Frauen in der Gründerszene oft „nicht voll ernst genommen“ werden, erlebte sie in der Anfangszeit des Unternehmens selbst. Einmal ließ sie sich bei einem Gespräch in München von einem Praktikanten begleiten – mit der Folge, dass zuerst „er und nicht ich für den Chef gehalten wurde“. Inzwischen passiert dies der heute 30-jährigen Geschäftsführerin natürlich nicht mehr. Vielmehr ist sie für zahlreiche Frauen, die sich selbstständig machen wollen, zum Vorbild geworden und nimmt diese Rolle „gern an“. Für den Bundesverband Deutsche Startups arbeitete sie an der Studie „Female Founders Monitor“ mit. Von den weiblichen Mitgliedern berufsorientierter Onlinenetzwerke wird sie oft um Rat gebeten. Typische Fragen lauten zum Beispiel, wie sich Mutterschaft und Karriere verbinden lassen und „wie schrill man als Frau auftreten darf“.

Auch wenn nach Janina Mützes Eindruck Investmentmanager es eher gewohnt sind, mit Männern zu verhandeln, verantwortet sie diesen Bereich bei Civey. Gemeinsam mit ihrem Co-Geschäftsführer und Mitgründer Gerrit Richter konnte sie bereits mehr als zwölf Millionen Euro einsammeln. Die größten Anteile an der GmbH gehören aktuell deren Gründern (40 Prozent) und dem früheren Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner

(35 Prozent). Die Mitarbeiterzahl ist auf 60 gewachsen, der Frauenanteil liegt bei rund 40 Prozent. Zu den familienfreundlichen Arbeitsbedingungen tragen relativ flexible Arbeitszeiten bei. Die werktägliche Kernarbeitszeit betr.gt sechs Stunden. In der Coronakrise sind die meisten Beschäftigten im Homeoffice tätig. Vorübergehend wurden sie im Sommer 2020 ermutigt, gern zwischendurch ins Büro zu kommen, wie Janina Mütze sagt. Aber seit dem Herbst halten sich meistens nur noch vier Personen in den schönen alten Lofträumen an der Alten Jakobstraße in Berlin-Mitte auf.

Derzeit nimmt Janina Mütze „keinen Termin vor zehn Uhr“ wahr, weil sie im vorigen November ein Kind bekommen hat und die frühen Morgenstunden mit ihm verbringt. Außerdem hat ihr Freund zwei Kinder im Grundschulalter in die Partnerschaft eingebracht. In ihrer Freizeit mag Janina Mütze besonders „Bewegung draußen, um den Kopf freizukriegen“. Während ihrer Schwangerschaft joggte sie bis in den achten Monat und entschied sich dann für Schwimmen als Sport. Wann sie damit weitermachen kann, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt die im Corona-Lockdown geschlossenen Bäder wieder öffnen dürfen. Halb im Scherz sagt die Unternehmerin, sie bewundere die Romanheldin Pippi Langstrumpf aus den Kinderbüchern von Astrid Lindgren: „Pippi ist unangepasst und lässt sich nicht verbiegen.“ Sie selbst stamme „aus einem konservativen Vorort“ von Frankfurt am Main, sagt Janina Mütze. Bereits als 14-Jährige engagierte sie sich kommunalpolitisch im Main-Taunus-Kreis. Dort lernte sie auch den späteren Civey-Mitgründer Gerrit Richter kennen. Als Jugendliche bestand ihr erster Job darin, Schülerfahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr zu verkaufen.

Nach Berlin kam Janina Mütze das erste Mal 2008 per Mitfahrgelegenheit, um die Rede des damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama an der Siegessäule zu erleben. Dabei begeisterte sie sich auch für die deutsche Hauptstadt, in der es viel lockerer zugehe als in ihrer Heimatregion: „Hier kann man in der Jogginghose oder im Ballkleid in die U-Bahn steigen, es interessiert keinen.“ Sie studierte Volkswirtschaft an der Freien Universit.t (FU) Berlin und schrieb ihre Abschlussarbeit über den deutschen Länderfinanzausgleich. Nebenbei servierte sie im Bistro der französischen Botschaft und absolvierte dann ein Praktikum in der Finanzabteilung der diplomatischen Vertretung. „So erhielt ich auch kostenlosen Französischunterricht.“ Später folgten eine gut dreijährige Tätigkeit für den Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften (BVK) und ein Praktikum im Berliner Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung. Beim BVK stieg Janina Mütze zur persönlichen Referentin der Geschäftsführerin auf. Bald merkte sie allerdings, dass es ihr nicht liegt, „nach dem Kalender einer anderen Person zu leben“, und kündigte.

Die Idee, Befragungen online statt per Telefon oder mit schriftlichen Fragebogen zu veranstalten, stammt laut Janina Mütze von Gerrit Richter. Es gibt auch andere Firmen, die Erhebungen im Internet anbieten – doch nur Civey beansprucht, repräsentative Ergebnisse zu erzielen. Zweifel daran äußerten konkurrierende Meinungsforscher und manche Wissenschaftler. Dabei sei es vor allem um den sehr deutlichen Bruch mit der Zufallsstichprobe gegangen, sagt Janina Mütze. Traditionell versuche man, zufällig Menschen zu befragen, statt sich allen Interessierten zu öffnen. Doch inzwischen sieht sie eine gewachsene Akzeptanz der Civey-Methode. „Die Kritik gibt es nicht mehr so.“ Man arbeite schließlich auch mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, der FU Berlin und Verbänden zusammen. Außerdem werde „transparent dargelegt“, wie die Umfragen funktionieren. Algorithmen entscheiden, welche Teilnehmer berücksichtigt werden, gewichtet nach Kriterien wie dem Alter und Geschlecht.

Als Start-up-Unternehmerin zieht Janina Mütze einen Vergleich zu der Autoindustrie und der Elektromobilität: „Wie Tesla sind wir die Ersten, die alles anders machen.“ Vielleicht hätten die Versprechungen nach dem Motto „Wir lösen die Probleme“ manche Leute irritiert. Andererseits sei ein „forsches Auftreten“ für junge Unternehmen praktisch unverzichtbar. Die Investitionsbank Berlin und das Bundeswirtschaftsministerium hatten die Gründung mit Fördermitteln unterstützt. Noch ist Civey nur in Deutschland aktiv. Es gibt aber Pläne für eine Expansion in die gesamte D-A-CH-Region, also den deutschsprachigen Raum inklusive Österreich und der Schweiz. Einen Börsengang schließt Janina Mütze dagegen in absehbarer Zeit aus: „Dafür ist es noch zu früh.“

Es geht nicht allein ums Geldverdienen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten will Janina Mütze auch ein bisschen die Welt verbessern. „Ein Ziel ist die Demokratieförderung“, betont sie und erinnert an ihre kommunalpolitischen Wurzeln. Für Nichtregierungsorganisationen wie „Gesicht Zeigen!“ arbeite Civey mitunter in einzelnen Projekten pro bono ohne Honorar. Auch der Klimaschutz hat hohe Priorität und wird firmenintern umgesetzt. Durch Ausgleichszahlungen für den Energieverbrauch „sind wir klimaneutral aufgestellt“, sagt die Gründerin. Für die eigene Belegschaft „sponsern wir BVG-Tickets und bieten Fahrrad- Abos an“. Inwieweit beschäftigt sich die Chefin selbst mit Ergebnissen der Umfragen? Zurzeit „interessieren mich Coronathemen“, erzählt Janina Mütze. Spannend findet sie, in welchem Ausmaß „die Gesellschaft mitmacht“ bei den politisch gesteuerten Maßnahmen gegen das Virus und den damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In den vorigen Jahren hat sie durch die Erhebungen manchmal etwas dazugelernt – wenn auch nicht immer weltbewegende Dinge. Einmal kam heraus, dass es in Deutschland offenbar eine Art „Kartoffelsalat-Äquator“ gibt: „Im Norden wird er mit Mayonnaise gegessen und im Süden mit Essig und Öl.“

Diesen Beitrag lesen Sie auch in unserem Magazin diskurs Nr. 33. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

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