Kunst und Codes

Kunst und Codes


Die Kunstwelt hat ein neues Traumpaar. Denn die Symbiose aus Algorithmus und Kreativität erlaubt Kunstschaffenden völlig neue Ausdrucksformen. Der Kunstbegriff befindet sich im Wandel – wieder einmal.

Die Kunstwelt hat ein neues Traumpaar. Denn die Symbiose aus Algorithmus und Kreativität erlaubt Kunstschaffenden völlig neue Ausdrucksformen. Der Kunstbegriff befindet sich im Wandel – wieder einmal.

Text: Katharina Hummert, Foto: © Refik Anadol Studio ‚MACHINE HALLUCINATIONS – NATURE DREAMS‘

Nicht weniger als ein Universum fotografischer Daten ist die Basis für die Arbeiten von Refik Anadol. Der aus Istanbul stammende Künstler sammelt „kollektive visuelle Erinnerungen“ aus dem persönlichen Umfeld, aus der Natur und städtischen Umgebungen. Mithilfe von Generative Adversarial Networks (GANs) – künstlichen neuralen Netzwerken – erschafft er riesige Datenskulpturen wie „Nature Dream“, computergenerierte Naturpigmente in ständiger Bewegung. Das Kunstwerk war Teil der Ausstellung „Machine Hallucinations: Nature Dream“, die Anadol speziell für die Berliner König Galerie konzipiert hatte. Dort war sie Ende des vorigen Jahres zu sehen. Im Dreiklang mit Datengemälden und „Winds of Berlin“, einer ortsspezifischen Echtzeitprojektion aus Wetterdaten der Stadt auf den Turm der St.-Agnes-Kirche, zeigte der Künstler, welch ein hohes technisches und ästhetisches Level die KI-Medienkunst inzwischen erreicht hat.

Das Projekt „Machine Hallucinations“ startete Anadol 2016 während seiner Zeit als Artist in Residence bei Google. Seitdem nutzt er GAN-Algorithmen, um „unerkannte Bewusstseinsebenen unserer äußeren Realität zu zeigen“, wie es im Katalog zur Ausstellung heißt. GAN-Algorithmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf ein bestimmtes Ergebnis hin „trainiert“ werden. Bei dieser Methode des maschinellen Lernens arbeiten die künstlichen Neuronen mit Ausgangsdaten und deren Ergebnissen. Indem sie wieder und wieder Berechnungen anstellen – lernen –, nähern sie sich dem gewünschten Ergebnis immer stärker an. Werke wie „Nature Dream“ sind also nicht etwas willkürlich Entstandenes, sondern basieren auf exakten Vorgaben. Kreativ ist der Künstler, nicht die Maschine.

Mit der GAN-Technik setzt sich auch die Londoner Künstlerin Anna Ridler auseinander. Ihr 2019 gestartetes Projekt „Bloemenveiling“ greift die Tulpenmanie der Niederländer im 17. Jahrhundert auf und ist eine Auktion mit KI-erzeugten Tulpen aus ihrer Video-Installation „Mosaic Virus“. Der ebenfalls virtuelle Hammer fällt auf der Plattform der Kryptowährung Ethereum. Wer den Zuschlag erhält, kann sich das als NFT (Non-fungible Token) codierte Kunstwerk eine Woche lang auf dem eigenen Bildschirm anschauen und den Tulpen beim Aufblühen und Verwelken zusehen. Nach sieben Tagen wird das Kunstwerk gelöscht. Dass sie bei ihrer Arbeit GANs einsetzt, empfindet die Künstlerin nicht als technisch, sondern sieht das Menschliche darin – schließlich seien die Daten das Ergebnis menschlicher Handlungen und damit Teil eines kreativen Prozesses. Für „Mosaic Virus“ fütterte Anna Ridler die KI mit den Daten von mehr als 10000 Fotografien, die sie angefertigt und katalogisiert hatte.

Während Anadol und Ridler ihren Maschinen klar vorgeben, was am Ende herauskommen soll, beschreitet der Münchner Künstler Mario Klingemann den Bereich algorithmusgenerierter Kunst. Er sieht deren Reiz darin, dass der KI möglichst viele Informationen vorenthalten werden, und begeistert sich für das Unbekannte, das Überraschende und die „Fehler“ im Ergebnis. Für sein Projekt „botto“ hat er einen autarken KI-Künstler erschaffen, der nicht nur selbstständig produziert, sondern auch entscheidet, was davon zum Verkauf angeboten wird. Nach Angaben der FAZ hat „botto“ bereits KI-Kunst für mehr als eine Million Dollar verkauft, aber mit der Auswahl tut sich der Algorithmus schwer – und wird deshalb dabei von Menschen unterstützt.

Technische Unterstützung, kreatives Tool oder Emanzipation der Maschine vom Künstler – was erwartet die Kunstwelt? Und was macht das mit dem Kunstbegriff? Refik Anadol hat eine persönliche Antwort darauf gefunden. Er verstehe seine „Machine Hallucinations“ als einen Prozess, als fortlaufende Erforschung der Datenästhetik und des Raums zwischen Digitalem und Physischem. Mit Kunstwerken wie „Nature Dream“, die sich immer wieder neu erfinden. Das erinnert irgendwie an Berlin.

Diesen Beitrag lesen Sie auch in unserem Magazin diskurs Nr. 36. Bestellen Sie ein kostenloses Exemplar bei Roland Lis, Berater Privatkunden, Weberbank Actiengesellschaft, Tel.: (030) 897 98 – 403, E-Mail: roland.lis@weberbank.de 

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